"Experimente der Natur"
Der Einfluss der Umweltbedingungen auf die Lebenswelt ist Thema der Ökologie, einer Wissenschaft, die immer wieder dem Vorwurf der mangelnden Exaktheit und Theorieferne ausgesetzt ist. Dies hat mehrere Gründe. In der realen Welt haben wir es mit einem Komplex an Umweltbedingungen zu tun, auf den sich die Lebewesen mehr oder weniger eingestellt haben. Pflanzen, Tiere, Pilze, Bakterien gedeihen aber nie alleine. Sie bilden komplexe Lebensgemeinschaften, die von den verschiedenen Umweltfaktoren zu einem Beziehungsgefüge verbunden sind, dem Ökosystem. Das Leben auf der Erde ist gewissermaßen ein permanentes Experiment mit zahlreichen unabhängigen und abhängigen Variablen. Was wir an Ökosystemen auf der Erde vorfinden, kann also als Ergebnis eines Experiments verstanden werden, dessen Versuchsbedingungen wir nicht setzen und daher vorerst auch nicht kennen. Ökologen tun nichts anderes, als zu versuchen, in diesem „Dschungel an Möglichkeiten“ die Versuchsbedingungen zu rekonstruieren.
Voraussetzung dafür ist allerdings die genaue Beschreibung des „Resultats“ des Naturexperiments und aus dem Vergleich heraus zu verallgemeinern, Typen und Regeln zu bilden. Dazu zählt auch die Kenntnis zeitlicher Veränderungen. Das wohl eindruckvollste Beispiel hat A. Sinclair vor kurzem für die Serengeti vorgelegt. Er zeigte durch sorgfältige Feldforschung, dass die heutigen riesigen Herden an Gnus, Antilopen, und die allgegenwärtigen Prädatoren, die wir aus den Filmen kennen, sich erst nach dem Erlöschen der Schlafkrankheit entwickelt haben. Ende des 19. Jahrhunderts hatte diese Krankheit große Teile der Tierpopulationen dahingerafft. Erst als sie endgültig verschwand, nahmen die Bestände gewaltig zu, bis sie sich durch Futtermangel durch Überweidung auf konstantem Niveau einpendelten. Weiters wird die Dynamik des Savannensystems geprägt durch eine Art Pulsieren der Gehölze, woran die Elefanten stark beteiligt sind.
Die Serengeti ist einmalig, zugleich aber auch repräsentativ für den Typ des afrikanischen Savannenökosystems. Den südamerikanischen Ökosystemen dieser Art fehlen große Herbivoren. Die Gran Sabana Venezuelas verdankt ihre Existenz beispielsweise dem Brandregime der indigenen Bevölkerung. Allerdings gibt es heutzutage bedeutend mehr Brände als früher. Wieviel Brände erträgt die Gran Sabana? Welches Nutzungsregime wäre hier nachhaltig, gibt es dafür neue Modelle? Dazu eben braucht es Forschung für das Gebiet und im Gebiet, deskriptive Forschung. Sicher sind die sogenannten funktionellen Aspekte für eine Gesamtschau, die bis auf die Ebene der molekularen Strukturen und Prozesse ausgreift, letztendlich von großer Interpretationskraft. Auf der andern Seite macht dies aber nur Sinn, wenn man das Objekt der Forschung beschrieben hat und seine Struktur und Zusammensetzung an Arten bzw. funktionalen Typen im Kontext regionaler Variabilität kennt.
Die Ökologie tendiert aktuell dazu, dieses Konzept zu verlassen, indem versucht wird, die inhärenten Unsicherheiten des interpretativen Ansatzes durch reduktionistische Experimente zu ersetzen und theoretische Konzepte mit deren Erkenntnissen zu unterfüttern. Bekannt und umstritten ist in diesem Kontext das Experiment BIODEPTH geworden. Durch Variieren der Zahl der Arten sollte die Bedeutung von Biodiversität für das Funktionieren der ökosystemaren Prozesse (Primärproduktion, Stoffkreislauf) untersucht werden. Hypothese: je mehr Arten, umso produktiver. Auf fast allen Versuchsflächen traf dies zu, doch war die Streuung enorm. Der genannte präzise experimentelle Ansatz ist zweifellos theoriedienlich, aber komplett unrealistisch. Massiv wird derzeit aufgrund der technisch–methodologischen Entwicklung auf die molekulare Ebene gesetzt. Von dieser Basis der Lebensprozesse ausgehend, erhofft die Forschung generelle, über die Variabilität des vorhandenen Artbestandes hinausgehende Modelle zu postulieren, um damit die Evolution erst richtig verstehen zu können.
Die Beschreibung der Pflanzengemeinschaften, deren Typisierung und die Beschreibung der Habitate sind noch lange nicht abgeschlossen. Genauso ist die Populationsökologie der Pflanzen über die Anfänge noch nicht hinausgekommen. Erst in den letzten Jahren wurde zum Beispiel die enorme Bedeutung der Klonalität evident. Als Mitte der 70er Jahre das Planieren von Schipisten allgemein üblich wurde, bestand Bedarf nach rascher Stabilisierung der Bodenwunden durch Vegetation. Kandidaten waren prima vista die dominierenden Arten. Der Autor dieses Beitrags testete unter anderem die Eignung von Krummsegge, einer Graminoide mit Klonsystemen. Sie ist die beherrschende Art in den alpinen Urwiesen und wächst mit einer Ausbreitungsgeschwindigkeit von 1 mm pro Jahr durch den Boden. Die Klone sind verzahnt, d.h. im reifen System sind sie nicht fassbar. Mit Hilfe von DNA-Fingerprinting gelang es aktuell der Arbeitsgruppe um A. Stöcklin in Basel ganze Klonsystem zu erfassen. Die ältesten erwiesen sich als 5.000 Jahre alt.
Dieses Beispiel zeigt, dass beschreibende und hypothesengenerierende Forschung auf Basis der Artenzusammensetzung oder funktioneller Typen nach wie vor nötig ist. „Ecologist’s are hardy types, thinking nothing about to stay all the day long in pouring rain in the middle of nowhere...“ Diese Definition aus einer Wissenschaftszeitung ist zwar scherzhaft ein bisschen zugespitzt, aber in der Ökologie ist der Anorak neben dem Labormantel keineswegs überflüssig geworden.