Ungleichheit vor und nach Steuern
In der wirtschaftspolitischen Diskussion spielt staatliche Umverteilung eine wichtige Rolle. Mit Steuern und Transfers soll die soziale Ungleichheit verringert werden. Aller-dings wird dabei oft wenig beachtet, wie ungleich bereits die Markteinkommen vor Steuern verteilt sind. Steuern können diese Unterschiede nur bedingt korrigieren. Die vorliegende Studie zeigt anhand neuer Daten aus Frankreich und den Vereinigten Staaten, dass die langfristigen Trends während des 20. Jahrhunderts vor allem dadurch bestimmt wurden, wie ungleich die Markteinkommen verteilt waren. (Christian Keuschnigg und Michael Kogler, Herausgeber.)
Quelle: Bozio, Antoine, Bertrand Garbinti, Jonathan Goupille-Lebret, Malka Guillot und Thomas Piketty (2020), Preredistribution vs. Redistribution: Evidence from France and the U.S., CEPR Discussion Paper Nr. 15415.
Die ungleiche Verteilung von Einkommen stößt in der wirtschaftspolitischen Debatte auf reges Interesse. Im Wesentlichen gibt es zwei Möglichkeiten, die Einkommensungleichheit zu verringern: Einerseits beeinflussen die Arbeitsmarkt- und die Bildungspolitik die Verteilung von Fähigkeiten der Arbeitnehmer und damit deren Markteinkommen, das heißt, der Einkommen vor Steuern und Transfers. Andererseits werden diese erwirtschafteten Einkommen durch Steuern und Transferleistungen umverteilt. Nun stellt sich die Frage, welche Art der Umverteilung die soziale Ungleichheit am effizientesten verringert. Die Forschung von Thomas Piketty und seiner Ko-Autoren schlägt in dieser Frage neue Pfade ein und führt zu neuen Ratschlägen an die Wirtschaftspolitik.
Das Forscherteam untersuchte, wie sich die Einkommensungleichheit in Frankreich und den Vereinigten Staaten langfristig entwickelt hat und welche Rolle staatliche Umverteilung dabei spielte. Dazu verglichen sie die Ungleichheit der Markteinkommen mit der Ungleichheit der Nettoeinkommen nach Steuern und Transferleistungen. Abbildung 1 veranschaulicht diese Entwicklung über den langen Zeitraum der letzten mehr als hundert Jahre. Die Forscher messen die Ungleichheit anhand der Anteile dreier Einkommensgruppen, nämlich (i) der 10 Prozent Topver-diener mit den höchsten Einkommen (rot), (ii) der 40 Prozent mit mittleren und höheren Ein-kommen (blau) und (iii) der 50 Prozent mit niedrigen Einkommen (orange), am gesamten Markt- (Dreiecke) bzw. Nettoeinkommen (Kreise).
Generell belastet die steuerliche Umverteilung hohe Einkommen und begünstigt niedrige. Erstere sinken z.B. durch progressive Steuern überproportional, sodass die Topverdiener einen geringeren Anteil am Nettoeinkommen aufweisen als am Markteinkommen. In den USA beispiels-weise verringerte die Umverteilung zwischen 2010 und 2018 den Einkommensanteil der Topverdiener (i) von durchschnittlich 45 auf 38 Prozent. Personen in der unteren Einkommens-hälfte (iii) hingegen zahlen weniger Steuern und erhalten oft staatliche Transfers, sodass ihre Nettoeinkommensanteile höher als ihre Markteinkommensanteile sind. So erzielten sie in Frankreich (2010-18) durchschnittlich rund 22 Prozent des gesamten Markteinkommens, aber rund 31 Prozent des Nettoeinkommens.
In beiden Ländern verzeichnete die oberste Einkommensgruppe einen drastischen Rückgang ihrer Anteile am Einkommen nach der großen Depression und während des zweiten Weltkriegs. In den folgenden zwei Jahrzehnten kam es zu einer Stabilisierung dieser Entwicklung. In Frank-reich jedoch sank der Einkommensanteil dieser Gruppe zwischen 1968 und 1983 weiter. Seither stagniert der Anteil der Topverdiener am Nettoeinkommen, während jener am Markteinkommen wieder leicht zunimmt. Im Gegensatz dazu kehrte der Einkommensanteil der Topverdiener in den Vereinigten Staaten praktisch zum Vorkriegsniveau zurück.
Der Anteil der Topverdiener am Markteinkommen folgt bei beiden Ländern einem u-förmigen Muster. Die Nettoeinkommensanteile sind in Frankreich dagegen L-förmig und in den USA u-förmig.
Weshalb hat die Einkommensungleichheit nach Steuern in Frankreich wesentlich stärker abgenommen als in den Vereinigten Staaten? Denkbar scheint, dass das sehr progressive französische Steuersystem den allmählichen Anstieg der Einkommensungleichheit vor Steuern auffangen konnte. Dadurch blieb die Ungleichheit der Nettoeinkommen seit den frühen 1980er Jahren konstant, während sie in den USA deutlich zunahm. Piketty und seine Ko-Autoren untersuchten diese Hypothese und verglichen den Umfang staatlicher Umverteilung in beiden Ländern. Sie betrachteten dazu das Einkommensverhältnis zwischen Topverdienern und der unteren Einkommenshälfte. Es zeigte sich, dass Frankreich und die Vereinigten Staaten trotz aller Unter-schiede ein sehr ähnliches Niveau staatlicher Umverteilung aufweisen. In beiden Ländern verringern Steuern das relative Einkommen der Topverdiener um gut vierzig Prozent, wenn auch mit erheblichen Unterschieden in der Höhe der Ungleichheit vor und nach Steuern.
Die Topverdiener erzielen in Frankreich ein rund sieben Mal und in den USA ein rund 17-mal höheres Marktein-kommen als die untere Hälfte aller Einkommensbezieher. Beim Nettoeinkommen beträgt dieses Verhältnis in Frankreich noch vier und in den USA noch neun.
Folglich ist die geringere Ungleichheit der Nettoeinkommen in Frankreich kaum das Ergebnis stärkerer Umverteilung. Stattdessen ist sie auf die weniger ungleich verteilten Markteinkommen zurückzuführen. In einem weiteren Schritt untersuchten die Autoren, wie die Veränderung der Nettoeinkommensungleichheit in beiden Ländern zustande kam. Dazu zerlegten die Forscher die Veränderung der Ungleichheit in zwei Bestandteile, nämlich, (i) Veränderungen der Ungleichheit der Markteinkommen und (ii) Änderungen bei der staatlichen Umverteilung sowie den Sach- und Kollektivausgaben. Die Forscher messen die Ungleichheit daran, wie hoch die Nettoeinkommen der 10 Prozent Topverdiener im Verhältnis zu den restlichen 90 Prozent aller Einkommensbezieher sind. Dieses Verhältnis verringerte sich im Laufe des letzten Jahrhunderts in Frankreich um 65 Prozent, in den USA hingegen nur um 14 Prozent.
In Frankreich ist der Gesamtrückgang der Einkommensungleichheit nach Steuern größtenteils auf die um 47 Prozent weniger ungleich verteilten Markteinkommen zurückzuführen. Steuern, Transfers, Sach- und Kollektivausgaben reduzierten die Ungleichheit der Nettoeinkommen nochmals um rund 17 Prozent. In den Vereinigten Staaten ist der Gesamtrückgang der Ungleich-heit nach Steuern im Zeitraum 1913-2018 das Ergebnis von um sieben Prozent ungleicheren Markteinkommen, korrigiert durch eine um 21 Prozent stärkere steuerliche Umverteilung sowie durch höhere Sachleistungen und kollektive Ausgaben.
Die Einkommensungleichheit in Frankreich ist um 65 Prozent gesunken. Dies erklärt sich hauptsächlich durch die um 47 Prozent geringere Ungleichheit der Markteinkommen. In den USA hingegen nahm die Einkommensungleichheit nur um 14 Prozent ab. Das liegt vor allem da-ran, dass die Markteinkommen heute ungleicher verteilt sind.
Die ökonomische Ungleichheit ist in Frankreich während des gesamten Zeitraums von 1900 bis 2018 deutlich stärker gesunken als in den Vereinigten Staaten. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass dies nicht notwendigerweise auf eine höhere Umverteilung zurückzuführen ist. Der Hauptgrund dafür liegt stattdessen in der gegenläufigen Entwicklung der Ungleichheit von Markteinkommen. Diese tragen laut den Forschern dazu bei, dass sich die Ungleichheit der Nettoeinkommen in diesen zwei Ländern trotz vergleichbarer staatlicher Umverteilung so unterschiedlich entwickelte.
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