Experten urgieren Beschluss der "Bodenstrategie für Österreich"
"Wo bleibt der Schutz unserer Böden?" Diese Frage stellen über 175 Wissenschafter und Wissenschafterinnen in einem Offenen Brief an Landwirtschaftsminister Norbert Totschnig (ÖVP) und die Verantwortlichen der Raumplanungsabteilungen in Wien und Tirol. Die von der Politik versprochene "Bodenstrategie für Österreich" liege seit November in einer finalen Fassung vor, sei aber bisher weder beschlossen noch kommuniziert worden. Dabei dränge die Zeit.
Konkrete Maßnahmen und eine koordinierte Strategie des Bundes, mit der die Bundesländer stärker in die Pflicht genommen werden und Handlungsdruck von den oft überforderten Bürgermeistern genommen werde, seien überfällig, denn "ich will mir nicht vorstellen, wie Österreich 2050 sonst aussieht. Wir schneiden uns unsere Lebensgrundlagen ab. Es muss etwas passieren!", sagte der ehemalige BOKU-Rektor, Ökologe und Bodenkundler Martin Gerzabek bei einem Pressegespräch des Wissenschaftsnetzwerkes Diskurs.
Bodeninanspruchnahme bei 11,3 ha pro Tag
Bis 2050 sehen EU-Vorgaben einen Netto-0-Bodenverbrauch vor. Die österreichische Bundesregierung hat sich das Ziel gesetzt, in einem ersten Schritt den Bodenverbrauch bis 2030 auf 2,5 ha pro Tag zu senken. "Wir werden das Ziel mit Sicherheit nicht erreichen", sagte BOKU-Agrarwissenschafter Franz Fehr. Derzeit halte man bei einer Bodeninanspruchnahme von 11,3 ha pro Tag, was zwar eine leichte Reduktion gegenüber den Vorjahren bedeute, aber noch immer zu den höchsten in ganz Europa zähle, hieß es. "Flächenverbrauch und Bodenversiegelung reduzieren" sei im Österreichischen Raumentwicklungskonzept ÖREK 2030 ein prioritäres Ziel, für dessen Erreichung die Bodenstrategie benötigt werde.
"Jeder Tag ohne einen nationalen 'Fahrplan' bedeutet den Verlust von weiteren wertvollen landwirtschaftlichen und biologisch aktiven Flächen", heißt es in dem Offenen Brief. "Je länger es keinen strategischen Umsetzungsplan gibt, desto schwieriger und unwahrscheinlicher wird die Erreichung der dargestellten und anzustrebenden Ziele und desto notwendiger werden Nahrungsimporte und Umbrüche in der heimischen Landwirtschaft."
Böden als CO2-Speicher
Denn genügend intakte Böden seien nicht nur als CO2-Speicher wichtig - laut Renate Christ, der ehemaligen Leiterin des IPCC-Sekretariats, werden derzeit 29 Prozent der globalen CO2-Emissionen von Böden gebunden -, sondern sind auch für die Nahrungsmittelsicherheit entscheidend. Gerzabek ortet für die Zukunft einen "doppelten Zielkonflikt". Einerseits würden künftig große Flächen für die Erzeugung erneuerbarer Energie benötigt, andererseits brauche Österreich "schon längst jede fruchtbare Fläche", da durch den Klimawandel die Ertragsfähigkeit bei Pflanzen wie Winterweizen oder Körnermais abnehme. Es gäbe aber auch Länder, die vom Klimawandel etwa durch das Auftauen der Permafrostböden profitieren werden: "China und Russland werden die Großmächte der Agrarwirtschaft werden. Was das politisch bedeutet, muss sich jeder selbst überlegen."
Der Umgang mit der endlichen Ressource Boden sei in Österreich jedoch weiterhin nahezu fahrlässig, so der Tenor der Wissenschafter. Der Verkehrsplaner Ulrich Leth von der TU Wien führte als Beispiele neben der umstrittenen Wiener Stadtstraße, die rund 33 ha versiegle, auch die neue Ostumfahrung von Wiener Neustadt an: "Dort werden 20 ha an fruchtbaren Ackerflächen versiegelt." Durch daran anschließende Flächen-Umwidmungen könnten weitere 60 ha künftig verloren gehen.
Statt den Bau neuer Straßen zu genehmigen, solle man sich vor Augen führen, was die Reduktion von Tempolimits nicht nur für Emissionen, sondern auch für den Flächenverbrauch bedeuten würde, so Leth: Die Fahrbahnbreite könnte bei 110 km/h auf Autobahnen um 20 Prozent verringert werden, bei Freilandstraßen und im Ortsverkehr wären die Einsparungen bei Geschwindigkeitsreduktionen noch größer.
Umbauen sexy machen
Auch im Wohnbau gebe es große Herausforderungen, betonte Gaby Krasemann, Expertin für Stadtplanung und Regionalentwicklung an der AAU Klagenfurt: "Es wird weiter eifrig gebaut. Wir müssen unsere Prioritäten ändern! Wir müssen Umbauen sexy machen!" Rückbau und Renaturierung von Flächen sei zwar ein gutes und wichtiges Ziel, bis jedoch Böden wieder ihre volle Funktionsfähigkeit zurückerhalten, brauche es Jahrzehnte, hieß es. Deshalb sei sowohl bei Industrie und Gewerbe wie beim Wohnbau Verdichtung und Nutzung der enormen Leerstände das wichtigste Thema.
Wie es gehen kann, dafür gebe es in der Schweiz und in Deutschland gute Beispiele, sagte Krasemann. "Da gibt es gute Ideen. Aber eigentlich ist jeder Schritt richtig. Falsch wäre nur, weiterhin nichts zu tun. Wir müssen endlich ins Tun kommen!" EU-weit habe auch Österreich 2004 eine Bodenschutz-Strategie per Veto verhindert, sagte Gerzabek. Nun sei auf europäischer Ebene als Teil der EU-Bodenstrategie für 2030 ein Bodengesundheitsgesetz in Entwicklung. Dieses würde zumindest den Druck auf die nationalen Regierungen erhöhen.
"Vorweg: Unser Ziel muss sein, den Bodenverbrauch in Österreich zu reduzieren. Denn gesunde Böden sind die Grundlage für lebenswerte Regionen", reagierte Landwirtschaftsminister Totschnig. Nach wie vor arbeite die ÖROK intensiv an der Fertigstellung der Bodenstrategie, die politischen Abstimmungen unter den ÖROK-Partnern seien schon weit fortgeschritten. "Der Termin zum Beschluss des Strategiepapiers im Rahmen einer politischen ÖROK Sitzung soll im ersten Halbjahr 2023 stattfinden. Wesentlich ist es, die regionalen Gegebenheiten zu berücksichtigen und gemeinsam mit Ländern und Interessensvertretungen eine zufriedenstellende Strategie auszuarbeiten", sagte der Ressortleiter.
Service: Offener Brief: https://at.scientists4future.org/2023/05/04/offener-brief-bodenstrategie/