Das gewalttätige Erbe von Konflikten - eine Aufgabe für die Integrationspolitik
Viele Asylsucher fliehen vor gewalttätigen Konflikten in ihrer Heimat. Die Erfahrung von Gewalt führt zu Traumata und dem Verfall der Sitten, die dazu beitragen können, dass manche jener Menschen später selbst gewaltbereiter werden. Anhand von Kriminalitätsdaten zu Asylsuchern in der Schweiz dokumentiert diese Studie, dass das Erleben gewalttätiger Konflikte während der Kindheit die Wahrscheinlichkeit, später selbst Gewalttaten zu begehen, tatsächlich erhöht. Dies stellt eine Herausforderung für die Integrationspolitik dar. Wie kann sie verhindern, dass sich die Gewaltspirale fortsetzt? Welche Rolle spielt dabei die Teilnahme am Arbeitsmarkt? Christian Keuschnigg und Michael Kogler, Herausgeber.
Quelle: Couttenier, Mathieu, Veronica Petrencu, Dominic Rohner und Mathias Thoenig (2019), The Violent Legacy of Conflict: Evidence on Asylum Seekers, Crime, and Public Policy in Switzerland. American Economic Review 109(12), 4378-4425.
Politische Gewalt ist oft hartnäckig und Kriege neigen dazu, sich zu wiederholen. Es gibt viele Belege dafür, dass Menschen, die in der Vergangenheit einen Konflikt erlebt haben, später gewaltbereiter sind. Traumata, Vertrauensverlust, Verfall der moralischen Werte und wirtschaftlicher Rückschritt sind mögliche Gründe für diese höhere Gewaltbereitschaft.
Doch in der Forschung erweist es sich als sehr schwierig, einen ursächlichen Effekt vergangener Konflikte auf die zukünftige Gewaltbereitschaft und rechtswidriges Verhalten zu bestimmen. Dies liegt vor allem daran, dass die meisten Menschen oft an jenem Ort bleiben, wo ein Krieg ausgebrochen war. Deshalb kann man die Auswirkungen von Krieg und Gewalt an sich von den Folgen schwacher politischer Institutionen oder ethnischer Spaltungen, welche zu den Konflikten beitragen, meist kaum auseinanderzuhalten. Dieser Mangel ist umso schwerwiegender, da der Teufelskreis von Gewalt und Kriminalität nicht nur zum Wiederaufflammen von Konflikten führt, sondern auch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung einer Region massiv hemmt.
In ihrer Studie untersuchen Mathieu Couttenier, Veronica Petrencu, Dominic Rohner and Mathias Thoenig von den Universitäten Lyon, Genf und Lausanne die Frage, ob Migrantinnen und Migranten, welche in ihrer Heimat Konflikte erlebt hatten, später selbst gewaltbereiter sind. Dazu betrachten die Forscher Asylsucher aus verschiedenen Herkunftsländern und Generationen in der Schweiz. Da sich die Menschen dort in einem vergleichbaren Umfeld ohne Krieg und politische Gewalt aufhalten, konnten die Wissenschaftler den ursächlichen Effekt von Konflikterfahrung auf die Gewaltbereitschaft schätzen und diesen weitgehend von anderen Einflussfaktoren trennen.
Zu diesem Zweck untersuchte das Forscherteam Daten zu Gewaltverbrechen in der Schweiz im Zeitraum 2009 bis 2016. Diesen kombinierten sie mit Informationen zu allen Asylsuchenden, die im gleichen Zeitraum in der Schweiz lebten. Diese stammten aus insgesamt 107 verschiedenen Ländern. Die Forscher fassten diese Informationen zu insgesamt ca. 23'000 Gruppen von Personen mit dem gleichen Herkunftsland und Geschlecht sowie ähnlichem Alter zusammen. Rund 92 Prozent jener Personengruppen stammten aus Ländern, wo seit 1946 mindestens ein Bürgerkrieg oder eine Massentötung stattgefunden hatte. Jedoch haben all diese Ländern nur in einigen Jahren, nicht aber im gesamten Zeitraum solche Konflikte erlebt. Manche der betrachteten Gruppen waren in ihrer Heimat Gewalt ausgesetzt, andere mit demselben Herkunftsland aber einer anderen Generation hingegen nicht.
Ob eine bestimmte Gruppe von Asylsuchern mit Gewalt konfrontiert war, misst das Forscherteam in erste Linie daran, ob es im Herkunftsland während ihrer Kindheit Bürgerkriege oder Massentötungen gab. Dann vergleichen sie die Kriminalitätsneigung von Personengruppen, welche in ihrer Kindheit solchen Konflikten ausgesetzt waren, mit jenen derselben Nationalität, die dies nicht waren. Der Unterschied zwischen jenen Personen besteht also darin, dass die eine Gruppe vor gewalttätigen Konflikten geboren wurde und die andere danach.
Abbildung 1 zeigt, dass die Neigung zur Gewaltkriminalität über die Altersgruppen hinweg höher ist, wenn jemand in seiner Kindheit Gewalt ausgesetzt war. Der Rückgang mit zunehmendem Alter stimmt mit den zahlreichen Hinweisen auf Alters-Kriminalitätskurven in der kriminologischen Literatur überein. Auffällig ist das Kriminalitätsgefälle zwischen den beiden Gruppen abhängig davon, ob die Personen vor oder nach Bürgerkriegen oder Massentötungen geboren wurden. Diese Diskrepanz ist über alle Alterskategorien hinweg zu beobachten; erst nach dem 60. Lebensjahr verschwindet sie allmählich. Im Durchschnitt impliziert sie, dass Asylsuchende mit Konflikthintergrund rund 1.75-mal häufiger zu Gewaltverbrechen neigen als solche, die nach einem Konflikt geboren wurden. Die empirischen Schätzungen bestätigen diesen Zusammenhang: Bei Gruppen, welche Gewalt miterlebt hatten, ist die Kriminalitätsneigung um 1.1 Prozentpunkte oder rund 35 Prozent höher.
Asylsucher, die in ihrer Kindheit Gewalt miterleben mussten, neigen im Durchschnitt 1.75-mal häufiger zu Gewaltverbrechen als solche, die nach einem Konflikt geboren wurden.
Verhalten sich Gewalttäter gegenüber verschiedene Opfergruppen anders, wenn sie selbst Gewalt ausgesetzt waren? Tatsächlich neigen Asylsucher, die in ihrer Kindheit selbst Konflikte miterlebt hatten, auch stärker zu Kriminalität gegenüber Einheimischen. Im Vergleich zu Asylsuchern ohne vergleichbaren Konflikthintergrund ist die Kriminalitätsneigung um rund 41 Prozent höher. Dieser Unterschied entspricht aber etwa dem durchschnittlichen Kriminalitätsanstieg aufgrund eigener Gewalterfahrungen. Bedeutender ist, dass Gewaltkriminalität gegen Mitbürger, das heisst gegen Menschen aus demselben Herkunftsland, fast drei Mal so stark steigt, nämlich um 114 statt 41 Prozent, wenn jemand Konflikte miterlebt hat. Die Zunahme von Gewaltverbrechen konzentriert sich also meist auf die eigenen Gemeinschaften. Dieses Ergebnis stimmt mit Theorien über das Wiederaufflammen von Bürgerkriegen überein, welche auf die Zerstörung sozialer Bindungen und innerstaatlicher Feindschaft hinweisen.
War jemand in seiner Kindheit gewalttätigen Konflikten ausgesetzt, steigt die Kriminalitätsneigung gegenüber Mitbürgern besonders stark, um 114 Prozent. Dies kann den Teufelskreis von Gewalt innerhalb einer Gemeinschaft erklären.
Wie kann die Politik solche Gewaltspiralen nachhaltig unterbrechen? Um diese Frage zu klären, machen sich die Forscher die Tatsache zunutze, dass es in der Schweiz mit ihren 26 Kantonen grosse Unterschiede in der Integrationspolitik gibt. Ihre Haupterkenntnis ist, dass die Integration von Asylsuchern in den Arbeitsmarkt die negativen Folgen früherer Gewalterfahrungen um rund zwei Drittel verringern kann. Ebenso trugen Maßnahmen zur sozialen Integration wie Kurse zur staatsbürgerlichen Bildung dazu bei, die künftige Kriminalitätsneigung zu verringern.
Die Kriminalitätsneigung von Asylsuchenden mit konfliktträchtigen Hintergründen kann um ein zwei Drittel reduziert werden, wenn die Integration in den Arbeitsmarkt erleichtert wird und es damit starke Anreize für gesetzestreues Verhalten gibt.
Die Forschungsergebnisse tragen zur aktuellen politischen Debatte bei. Aber sie befürworten nicht die Notwendigkeit einer restriktiveren Einwanderungspolitik. In einem gut funktionierenden Asylsystem, das einen leichten Zugang zum lokalen Arbeitsmarkt schafft und Kurse zur zivilen Kultur sowie Möglichkeiten der Integration anbietet, lässt sich das Risiko steigender Kriminalität durch Migranten mit Konflikthintergrund gut eindämmen. Die Ergebnisse können auch neue Ansätze für den Wiederaufbau nach Konflikten geben. Das Ergebnis, dass Arbeitsmarktintegration beim Durchbrechen des Teufelskreises anhaltender Gewalt hilft, mag darauf hindeuten, dass nach einem Konflikt ein starkes Engagement der Geberländer erforderlich ist.
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