Aufschwung der Erinnerung
Der Aufschwung des (sichtbaren) Erinnerns, der sogenannte “Memory Boom”, setzte in Österreich im Vergleich zu anderen Ländern erst relativ spät ein. Das „In-den-Vordergrund-Rücken der Erinnerung an die Shoah, also an den Holocaust und die Ermordung europäischer Jüdinnen und Juden durch das NS-Regime, ist in Österreich im Grunde erst in den 2000er Jahren passiert“, erklärt der Historiker Peter Pirker (siehe „Baustellen des Erinnerns„). Bis in die 1990er-Jahre dominierten die “großen Erzählungen” von Wehrmachtsveteranen und deren Organisationen die österreichische Erinnerungskultur, wodurch unser Land in Hinblick auf den Holocaust und seine Rolle in der Erinnerungskultur anderen Ländern, wie den USA oder Deutschland, um zehn bis 15 Jahre hinterherhinke, so Pirker.
Der Memory Boom wurde schließlich durch Forschung, bei der die Namen von Opfern des Nationalsozialismus eruiert wurden, angestoßen: “Das war die Grundlage dafür, dass neue Erinnerungsinitiativen aus der Gesellschaft heraus entstanden sind, angetrieben von Angehörigen der Opfer, die auf der ganzen Welt leben”, erklärt Pirker. So wurde auch unter Pirkers Beteiligung eine digitale Karte der Erinnerung, die alle seit 1945 errichteten Erinnerungszeichen, wie Denkmäler, Gedenkräume, -tafeln oder Ausstellungen in der Stadt Wien verzeichnet, entwickelt. Trotz der “Hochsaison des Gedächtnisses” sei die Aufarbeitung aber immer noch nicht abgeschlossen – auch 80 Jahre später beständen immer noch Lücken, so Pirker.
Einfluss der Forschung und Zeitzeugen als Quellen
Wie die historische Entwicklung der vergangenen beiden Jahrzehnte hinsichtlich des Memory Booms zeigte, prägt Forschung ganze Erinnerungskulturen und Gesellschaften (siehe „Über belastete Straßennamen und aussterbende Zeitzeugen„). Die Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Barbara Stelzl-Marx, bestätigt dies: “Manche Themen werden durch die Forschung sichtbar gemacht, zum Teil gemeinsam mit den Medien oder zivilgesellschaftlichen Initiativen. Ein Beispiel ist das Lager Liebenau, das ehemals größte NS-Zwangsarbeiterlager in Graz, das nun einen fixen Bestandteil in der Erinnerungskultur der Landeshauptstadt hat. Andere Themen werden durch die Forschung enttabuisiert und führen zu einem neuen Umgang: Stichwort Besatzungskinder in Österreich.”
Wissenschaft spielt zudem beim Umgang mit sichtbaren Erinnerungszeichen eine große Rolle. Neben Debatten über umstrittene Denkmäler diskutiert man auch über Umbenennungen belasteter Straßennamen, die, so Stelzl-Marx, Aufschluss über den Umgang einer Gesellschaft mit ihrer jeweiligen Geschichte geben. In Graz wurde beispielsweise eine Expertenkommission eingerichtet, die rund 750 personenbezogene Straßennamen prüfte, wovon sich rund 80 als belastet und rund 20 als schwer belastet herauskristallisierten.
Auch Zeitzeugen sind essenziell bei der Veränderung von Erinnerungskulturen. Zeitzeugeninterviews stellen besondere Quellen dar, weil sie erst während des Forschungsprozesses generiert werden. Auch können sie als Ergänzung zu anderen schriftlichen Quellen, wie Archivdokumenten, eingesetzt werden. Momentan steht die Forschung vor der Herausforderung, dass die Zeitzeugenschaft, die über den Zweiten Weltkrieg noch berichten kann, allmählich ausstirbt: “Generell ist es schon so, dass der Verlust von Zeitzeugen schwer zu kompensieren ist. Das sind Berichte aus erster Hand; wenn diese Zeitzeugen nicht mehr zur Verfügung stehen, dann verliert die Erinnerung an Unmittelbarkeit”, so Stelzl-Marx. Sie plädiert dafür, bereits aufgezeichnete Interviews zu digitalisieren, archivieren und analysieren. Außerdem werde man durch den Einsatz neuer Technologien, wie beispielsweise die Entwicklung von Hologrammen, neue Wege finden, um das Wegfallen von Zeitzeugen zu kompensieren.