Medizintechnik zwischen Hightech und "Gut genug"
Das globale Umfeld für die Medizintechnik-Industrie ist im Wandel, die Marktdynamik wird komplexer. Die Märkte in den Industrieländern sind eher gesättigt und stehen auf der Kostenbremse, während in Schwellenländern der Bedarf nach medizinischen Gerätschaften steigt. Auch bei einem der größten Anbieter auf dem Weltmarkt, Siemens Healthcare, setzt man neben modernster Hochtechnologie zunehmend auf den "Good Enough"-Bereich mit "abgespeckten" Gerätevarianten.
Mit Milliardeninvestitionen will etwa China in seinen rückständigen West-Provinzen die Konjunktur ankurbeln. Unter anderem wird die Gesundheitsinfrastruktur massiv ausgebaut, gleichzeitig herrscht aber ein Mangel an Fachärzten. "Da brauchen wir natürlich intelligentere Systeme, die entweder einfacher zu bedienen sind oder einfach in eine Netzwerkinfrastruktur zu integrieren sind, damit man die Expertise, die vor Ort nicht vorhanden ist, von woanders draufschalten kann", erklärte Hermann Requardt, Vorstandsmitglied der Siemens AG und Geschäftsführer von Siemens Healthcare, im Gespräch mit APA-Science.
Darum sei in China der größte Wachstumsmarkt bei Ultraschallgeräten zu sehen, weil die Voraussetzungen für die Infrastruktur relativ gering sind. In diesem in Relation zu anderen bildgebenden Verfahren wie Röntgen, Magnetresonanztomografie (MRT) oder Computertomografie (CT) preisgünstigeren "Entry Level"-Bereich liege entsprechend großes Marktpotenzial. "Da braucht man keine Bleikammern, keine Hochfrequenzkabinen, sondern nur eine Steckdose und einen abgedunkelten Raum und man kann loslegen", so Requardt.
Neue Weltordnung in der Medizintechnik
Das zeige, dass sich die Anbieter den Infrastrukturen in den "Emerging Countries" strategisch anpassen müssen. Denn von den zweistelligen Wachstumsraten für den gesamten Medizintechnik-Bereich in den "Nullerjahren" des Jahrhunderts ist man heute weit entfernt. Obwohl es selbst innerhalb der bildgebenden Systeme deutliche Unterschiede gebe und der Markt stark fragmentiert sei, verlaufe die Wachstumskurve derzeit sehr flach: " Die Wachstumsraten liegen eher bei drei bis fünf Prozent. Das reine Gerätegeschäft ist teilweise noch ein bisschen darunter", schätzt der Healthcare-CEO. Gute Wachstumszahlen sehe man dagegen im Bereich der Therapie-Überwachung und -Unterstützung oder aber bei den sogenannten "Hybrid OPs", das sind Operationssäle mit fest installierter Bildgebung, die Qualitätskontrollen in Echtzeit ermöglichen.
Deutliche Einbußen haben sich auch in den USA, dem mit Abstand größten Markt für bildgebende Systeme und Labordiagnostik, bemerkbar gemacht. Hier habe sich das Niveau nun aber langsam wieder eingependelt und sei sogar wieder leicht am Steigen. "Wir sind jetzt mit den Wachstumsraten bescheidener geworden, aber auf dem US-amerikanischen Markt lassen sich jetzt wieder Geschäfte machen, allerdings durchaus mit einer anderen Struktur", erklärt Requardt. Gemeint ist der sogenannte "Good Enough"-Bereich, der zunehmend dominiere. Dabei handelt es sich um die Philosophie, dass wesentlich kostengünstigere Gerätevarianten als ausreichend erachtet werden oder dass man auf gebrauchte Apparate zurückgreift. So habe Siemens Healthcare in den vergangenen drei Jahren sein Gebrauchtgerätegeschäft in den USA erheblich gestiegert. .
In den Industrieländern tendiere der Markt bei den Tomografen allgemein in Richtung Sättigung, so dass sich das Geschäft nun auf den Austausch der bestehenden Geräte konzentriere: "Die Verweilzeit von einem Gerät in einem Industrieland ist je nach Art zwischen sechs und zehn Jahren - wobei die Kernspintomografen öfter einmal gewechselt werden. Das heißt, wir haben im Wesentlichen ein Ersatzgeschäft."
Drei Eckpfeiler
Siemens Healthcare hat mit weltweit rund 52.000 Mitarbeitern im Geschäftsjahr 2013 (bis 30. September) einen Umsatz von 13,6 Mrd. Euro und ein Ergebnis von rund zwei Mrd. Euro erzielt. Über alle Geschäftsbereiche - im Wesentlichen sind das medizinische Bildgebung, Labordiagnostik und Krankenhaus-IT - belaufen sich die Investitionen in Forschung und Entwicklung (F&E) auf gut neun Prozent des Umsatzes. Bezogen auf das Portfolio sei das einer der höchsten Werte innerhalb des Wettbewerbs, zu dem vor allem Philips und General Electric (GE) zählen.
Bei röntgenbasierten Systemen geht der Trend in der Forschung laut Requardt dahin, einen besseren Weichteilkontrast zu erzielen und die Strahlenbelastung zu verringern. Ein 3D-Scan des Brustbereichs entspricht heute einer zusätzlichen Strahlungsdosis eines Langstreckenfluges. "Damit ist das Dosisargument eigentlich keines mehr, denn beim Fliegen ist es ja auch keines", sagt Requardt, der daher auch mehr Möglichkeiten in der Bildgebung für Gesunde sieht, etwa für die Mammographie oder generell für die Vorsorgemedizin.
Beim Ultraschall gehe die Entwicklung in Richtung von dreidimensionalen Scans in Echtzeit ("4D"). Auf der anderen Seite sei es auch zunehmend wichtig, vergleichsweise sehr kostengünstige, ultrarobuste Ultraschallgeräte für unerfahrene Anwender bereitzustellen. Zusätzlich zu "technologisch ausgeklügelten Maßnahmen, die Dosis noch einmal zu reduzieren", komme es in der Entwicklungsarbeit jeweils auch darauf an, ob sie auf den "Entry Level" oder den Highend-Bereich ausgerichtet ist. "In diesem gewaltigen Spektrum sind wir aufgestellt, mit einer leichten Verschiebung hin zu diesem Entry Level, weil da noch die Wachstumsmärkte sind", erklärt Requardt.
Daten- und Bilderflut
Alleine mit Computertomografen von Siemens werden jeden Tag weltweit ungefähr eine halbe Million Menschen untersucht. Die dabei generierten Bilder werden zwar abgespeichert, aber nicht gemeinsam ausgewertet. "Aus den Daten könnte man mehr machen, aber es ist noch kein Geschäft heute", sagt Requardt. Allerdings müsste der Wille dazu, in diesen Daten verwertbare Strukturen zu finden, von "meinungsbildenden Institutionen" kommen und nicht von der Industrie selbst. Im Weg stehen vor allem Datenschutzbedenken: "Der gläserne Patient ist ja so eine allseits besprochene FloskelDarum muss die politische Willensbildung woanders stattfinden."
Der Präventionsgedanke spielt auch in der Genomanalytik eine wichtige Rolle. Forscher von Siemens Healthcare sequenzieren beispielsweise HI-Viren und genetische Mutationen und auch operativ hat man den "Daumen im Wind". "Der Durchbruch in der Genom-Sequenzierung kann nur kommen, wenn sich die Erstattungskultur (im Gesundheitswesen; Anm.) dahingehend ändert, dass honoriert wird, mehr Information über das gesunde Individuum zu sammeln, um sie zur Verfügung zu haben, wenn es krank ist", kritisiert Requardt das seiner Ansicht nach zu geringe Bewusstsein für Vorsorge: "Wir leben in einer Welt, in der der Reparaturbetrieb bezahlt wird, und das findet man auch in den Erstattungsprinzipien."
"Industrialisierter" Patient
Geht der Fortschritt in der Medizintechnik weiter wie bisher, sei es durchaus denkbar, dass der Patient in Zukunft "völlig industrialisiert" wird, meint der Experte. "Man schiebt den Patienten irgendwo rein, es wird ein Bild gemacht, dann wird er automatisch anästhesiert, operiert und geschient und irgendwann wird er von einem Roboter durch die Reha geleitet. Das ist denkbar. Wollen wir das? Wollen wir nicht."
Sinnvoll sei es vielmehr, so Requardt, technologische Aspekte zu nutzen, um beispielsweise das überlastete Personal im Gesundheitswesen zu unterstützen, damit sich dieses auf das fokussieren könne, wo es wirklich gebraucht werde: "Da ist ein vernünftiger Kompromiss und eine Synthese denkbar, in diese Richtung wird sich das bewegen."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science