Wien will "Straßenraum für den Menschen zurückerobern"
Die Stadt Wien hat ambitionierte Ziele: In zehn Jahren sollen der Verkehr umweltfreundlicher, das Radwegenetz weiter ausgebaut und die Straßen für Kinder sicherer sein. Auf Grundlage des Fachkonzepts Mobilität - als Teil des Stadtentwicklungsplans 2025 -, das im Dezember 2014 vom Gemeinderat beschlossen wurde, sollen 50 Maßnahmenpakete bis 2025 umgesetzt werden.
Das erklärte Angelika Winkler, Leiterin des Referats für Mobilitätsstrategien und stellvertretende Chefin der MA 18, gegenüber APA-Science. 80 Prozent ihrer Wege sollen die Wiener dann mit dem Umweltverbund - mit öffentlichen Verkehrsmitteln, dem Rad oder zu Fuß - zurücklegen. Derzeit sind es 73 Prozent, wobei in der Statistik zu den Rädern auch Motorräder gezählt werden. Nur mehr ein Fünftel (20 Prozent) soll in zehn Jahren auf den Autoverkehr entfallen, derzeit sind es noch 27 Prozent. Das in der Rahmenstrategie festgelegte Ziel bis 2030 liegt sogar bei 15 Prozent.
Motorisierungsgrad fällt in allen Bezirken
Wien wächst - so verzeichnete die Stadt 2015 um 43.000 Einwohner mehr als noch 2014. "Trotzdem ist die Zulassungsquote von Privat- und Dienstautos nur leicht um 0,3 Prozent gestiegen", führte die Expertin aus. Die absolute Anzahl der Autos hat sich also geringfügig erhöht, aber relativ gesehen im Verhältnis zur Bevölkerungsentwicklung nimmt sie in allen Bezirken ab. Beispielsweise stieg der Anteil an mit öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelegten Wegen innerhalb des Gürtels von 35 Prozent (2001) auf 41 Prozent (2015).
Selbst in den von Öffis weniger gut erschlossenen südlichen Bezirken Liesing, Favoriten und Simmering sei die Autonutzung von 45 Prozent (2001) auf 39 Prozent gesunken. Wien verzeichnet laut dem Verkehrsclub Österreich (VCÖ) mit 372 Autos je 1.000 Bewohnern den niedrigsten Motorisierungsgrad der heimischen Landeshauptstädte. Die meisten Fahrzeuge gab es 2015 mit 653 pro 1.000 Einwohner in Eisenstadt (inklusive Rust).
700.000 Jahreskarten verkauft
Als Resultat stieg die Zahl der Jahreskartenbesitzer in der Bundeshauptstadt 2015 erstmals auf 700.000 und übertraf damit jene der zugelassenen Autos. Das freut die Stadt, andererseits wirft es Kapazitätsfragen auf. Eine Entlastung werde das Zwei-Milliarden-U-Bahnprojekt U2/U5 bringen, ist Winkler überzeugt. Die innerstädtische Linie, die bis 2028 fertiggestellt sein soll, werde Fahrgäste von der U1 und U6 abziehen. Neben dem Ausbau der Infrastruktur - verlängert wird auch die U1, und die Erschließung von Straßenbahnlinien wird diskutiert - komme es auch auf die richtigen "Gefäßgrößen" der Züge an, führte Winkler weiter aus: "Wie muss der ideale Waggon aussehen, um einen raschen Fahrgastwechsel zu ermöglichen? Es braucht ausreichend Türen, darüber hinaus werden Sie in den neuen Zügen immer mehr flexible Multifunktionszonen vorfinden. Dort gibt es ein paar Klappsitze, Platz für Kinderwägen oder Fahrräder, und in Stoßzeiten ausreichend Stehfläche - denn die Planung richtet sich immer nach den zwei, drei intensiven Stunden am Vormittag und etwas weniger am Nachmittag." Man beobachte zudem, dass kurze Wege in der Innenstadt zunehmend mit dem Rad oder zu Fuß zurückgelegt würden und nicht mit den Öffis.
Schnellbahn: Verhandlungssache
Nicht vordergründig um Infrastruktur dreht es sich beim Thema Schnellbahnen, "wobei hier das Projekt der Verbindungsbahn angedacht ist", so Winkler. Im neuen Verkehrsdienstevertrag, der 2019 beginnt, werde man nun gemeinsam mit Niederösterreich beginnen, die Prioritäten auszuhandeln. Das Fachkonzept Mobilität enthalte jedenfalls ein gemeinsames Kapitel über den Regionalverkehr samt der Anforderung, dass dieser Verkehrsdienstevertrag aufeinander abgestimmt werde. Während die Stadt das Mobilitätsverhalten der Wiener einigermaßen steuern kann, ist das beim Einpendlerverkehr nicht der Fall. "Wir haben keine Planungskompetenz und sind auf Kooperationen angewiesen", räumt Winkler ein. Eingreifen könne man etwa mit der Parkraumbewirtschaftung - "das impliziert natürlich, dass es im S-Bahn-Bereich Alternativen für die Pendler gibt", stellt die Mobilitätsexpertin fest.
Freie Fahrt auf Radstraßen
Große europäische Städte wie Amsterdam, Berlin, London oder Paris haben Radlangstrecken. Auch niederösterreichische Arbeitspendler kommen immer öfter auch per Fahrrad, "das ist nicht zu unterschätzen", betont Winkler. Im Mobilitätskonzept angedacht seien Radlangstrecken mit höheren Ausbaustandards. So gebe es die Überlegung, im Zuge des U-Bahn-Ausbaus entlang der äußeren Favoritenstraße eine Möglichkeit für Radler zu schaffen, "vom Süden rasch hereinkommen. Es ist für uns ein Thema", beteuert die Expertin, wiewohl sie auf die schwierige Umsetzung hinweist. "Der öffentliche Raum ist begrenzt. Das Radwegenetz enthält natürlich Stellen, die erst sukzessive in Angriff genommen werden", schränkt sie ein. "Den einen großen Wurf wird es hier nicht geben, sondern eine projektbezogene Umsetzung in Kleinarbeit, nach Maßgabe finanzieller Mittel und politischer Möglichkeiten auch in den Bezirken", so die nüchterne Analyse. Dennoch schaue sich die Stadt sehr genau an, wie etwa London seine Radoffensive umsetze.
Tempo 50 als Gefahr für Kinder
Schulkinder mit dem Rad loszuschicken, ist in Wien undenkbar. Doch auch zu Fuß ist der Weg nicht immer gefahrlos zu bewältigen. Mit einfachen Maßnahmen wie flächendeckender Verkehrsberuhigung mit Tempo 30-Zonen will die Stadt mehr Sicherheit für Fußgänger, insbesondere Kinder, schaffen. "Wir wollen, dass die Kinder selbstbestimmt und sicher in die Schule kommen", stellt die Raumplanerin fest. Ein Dorn im Auge ist der Expertin in dem Zusammenhang der Bringverkehr vor Schulen. Aus Sorge um die Sicherheit des eigenen Sprösslings würden Eltern übersehen, dass sie mit ihrem Fahrtendienst Teil des Problems seien. "Denkbar sind etwa temporär verkehrsbeschränkte Zonen vor Schulen. Da gibt es verschiedene Lösungen, die man mit dem Bezirk und den Schulbetreibern durchdiskutieren muss", erklärt Winkler.
Junge Städter brauchen kein Auto - auch kein E-Auto
Die Bedeutung von Privatautos nimmt ab, Jugendliche machen den Führerschein immer später oder gar nicht und setzen auf den Umweltverbund. Während 33 Prozent der 45-59-Jährigen öffentliche Verkehrsmittel und 32 Prozent das Auto nutzen, optieren in der Gruppe der 15-29-Jährigen fast zwei Drittel (57 Prozent) für Öffis und nur 19 Prozent für das Auto. "Wenn diese Generation älter wird, wird sie ihr Verhalten nicht grundsätzlich ändern. Dann kommen wieder Jüngere nach, die vielleicht noch weniger auf das Auto setzen", vertraut Winkler auf eine weitere Verschiebung alleine aufgrund der Demografie. "Das muss man in der Stadtentwicklung und -planung mitdenken", erklärt sie.
Derzeit besetzt der stehende oder fließende Autoverkehr 65 Prozent der Fläche des Straßenraums. Im Schnitt verbringt ein Privatauto in Wien 98,5 Prozent seines Tages parkend. Ob dieses herumstehende Auto nun mit herkömmlichem Antrieb oder mit einem Elektromotor betrieben werde, sei aus verkehrspolitischer Sicht unerheblich. "Wir haben in Wien ein Platzproblem - das E-Auto ist nicht die Lösung aller urbanen Verkehrsprobleme", so Winkler. Unbestritten würden Elektroautos die Umwelt durch den fehlenden CO2-Ausstoß schonen. "E-Autos sind ein Thema für Vielfahrer, für Unternehmensflotten, für Firmenautos, die viel unterwegs sein müssen. Da zahlt es sich wirklich aus", meint Winkler und weist darauf hin, dass sich die E-Mobilitätsstrategie den allgemeinen Mobilitätsstrategien unterzuordnen habe. In Wien wird E-Mobilität in verschiedenen Einsatzgebieten getestet, etwa in einem Projekt zu E-Taxis und Ladestationen, in Simmering ist E-Mobilität im Rahmen des Horizon 2020-Projekts "Smarter Together" Thema. Modellregionen für E-Mobilität gibt es auch in der Seestadt Aspern.
Aspern: Einkäufe bringt der "Dienstmann"
Dort, in einem der derzeit größten Stadtentwicklungsgebieten Europas, leben mittlerweile über 6.000 Menschen, was bereits einer Kleinstadt entspricht. "An der Oberfläche ist es so, wie wir es auch für die Innenstadt anstreben: eine Rückeroberung des Raums für die Menschen. Die Autos stehen unter der Erde, es gibt breite Gehsteige und Radwege", erläutert Winkler. Zusätzlich gebe es Projekte wie ein Leihradsystem oder den Zustellservice "Hallo Dienstmann", der Einkäufe günstig und umweltfreundlich mit E-Bikes zustellt. Wer es gewohnt war, mit dem Lift zum parkenden Auto zu fahren, muss sich eben umstellen: Nicht in jedem Haus gibt es eine Garage beziehungsweise teilen sich mehrere Bauträger Sammelgaragen.
Von Sylvia Maier-Kubala / APA-Science