Siemens: Fahrerlose U-Bahn bereits "state of the art"
Als einer der größten Industrieanbieter im Bereich von öffentlichen Verkehrssystemen will der Siemens-Konzern die wichtigsten Trends in Sachen urbaner Mobilität antizipieren und mitgestalten. Arnulf Wolfram, Leiter des Sektors Infrastructure & Cities CEE, verrät im Interview mit APA-Science, wie er sich die mobile Zukunft vorstellt und wo noch der größte Forschungsbedarf bei fahrerlosen Systemen herrscht.
APA-Science: Wohin entwickelt sich die urbane Mobilität in der näheren Zukunft?
Wolfram: Das starke Wachstum der urbanen Regionen bedeutet, dass insbesondere der schienengebundene öffentliche Verkehr weiter wachsen wird. Ausschlaggebend sind dafür einerseits höhere Geschwindigkeit – Stichwort: „Ausweichen von Staus“ – und besserer Komfort, aber auch dass den Menschen dadurch die Möglichkeit geboten wird, ihre Zeit sinnvoller zu nutzen.
Im Nahbereich von Wien gibt es ein Paradebeispiel dafür, welche Entwicklungen mit einem leistungsfähigen öffentlichen Verkehr verbunden sind, – das ist die Anbindung Wien - St. Pölten. Mit der Eröffnung des Wienerwaldtunnels und der Tullnerfeldstrecke wurde die Fahrzeit auf gut 25 Minuten reduziert und das hat schon Auswirkungen auf das unmittelbare Fahr- und Reiseverhalten der Menschen. Es hat aber auch raumordnungspolitischen Einfluss. Laut dem St. Pöltner Bürgermeister siedeln sich nun verstärkt Leute aus Wien in St. Pölten an.
Der Individualverkehr wird zwar nicht verschwinden, aber er wird stärker durch Elektromobilität geprägt sein. Zusätzlich glaube ich, dass das Thema Verkehrsmanagement - nicht nur auf der Schiene sondern auch im Straßenverkehr - stärkeren Einfluss auf unsere Mobilität haben wird. Das Verkehrsmanagement erfolgt in Zukunft mit Hilfe von Car to X-Kommunikation (Autos "sprechen" mit Verkehrsleitzentralen oder anderen Verkehrsteilnehmern; Anm.), u.a. bei Parkleitsystemen aber auch zur rechtzeitigen Beeinflussung der Geschwindigkeit, um damit einen kontinuierlichen Verkehrsfluss sicherzustellen. Da gibt es bereits eine Vielzahl von Versuchsfahrten und -projekten in diese Richtung. Auch das selbstständige autonome Fahren im Individualverkehr wird ein Thema werden. Flächendeckend ist das aber noch ein etwas längerer Weg. Das Thema „autonomes Fahren“ geht ja weit über technische Fragestellungen hinaus. Hier geht es uns heute wohl so wie seinerzeit zu Beginn des Automobilzeitalters unseren Vorfahren.
APA-Science: Was sind die wichtigsten Treiber hinter den aktuellen Entwicklungen?
Wolfram: Unsere Strategie als Unternehmen ist auf sogenannten Megatrends aufgebaut. Ein für die Entwicklung der Mobilität relevanter Megatrend ist zunächst einmal ganz klar die Urbanisierung. Wir werden sehen, dass mehr und mehr Leute in den Ballungsräumen leben und arbeiten werden und damit auch das Verkehrsaufkommen steigen wird. Das wird sich speziell in historisch gewachsenen Städten wie Wien nicht anders bewältigen lassen als mit öffentlichen Verkehrsmitteln, weil einfach mehr, größere und breitere Straßen zu bauen rein raumordnungsmäßig nicht möglich ist. Auch der demografische Wandel - sprich unsere immer älter werdende Gesellschaft - wird Auswirkungen auf das Mobilitätsverhalten haben, weil ältere Personen einfach weniger Auto fahren.
Darüber hinaus sehen wir ein rasantes Voranschreiten der Digitalisierung, das auch vor den Verkehrssystemen nicht haltmacht – ganz im Gegenteil. Natürlich beschäftigen wir uns als Siemens auch sehr intensiv mit den technischen Möglichkeiten der Digitalisierung zur Nutzen- und Komfortverbesserung für unsere Kunden - etwa durch Steigerung der Verfügbarkeit mit Hilfe vorausschauender Wartung, aber auch durch verbesserte und rascher verfügbare Informationen für die Fahrgäste bzw. die Verkehrsteilnehmer im Straßenverkehr.
APA-Science: Gehen die Trends global gesehen in eine ähnliche Richtung?
Wolfram: Von der Tendenz her gehen sie alle in eine ähnliche Richtung. Die Geschwindigkeit ist jedoch unterschiedlich. Das hat zunächst historische Gründe, als die Infrastruktur bzw. überhaupt die ganze Gestaltung der Städte hier in Europa eine lange Tradition haben. Im Gegensatz dazu gibt es speziell in Asien Städte, die gewaltig wachsen - in einem Ausmaß und einer Geschwindigkeit, die für uns in Europa unvorstellbar sind. Natürlich besteht in diesen Städten die Notwendigkeiten, dass der Ausbau der Infrastruktur mit dieser Entwicklung Schritt hält.
APA-Science: Welche Städte haben denn heute schon die fortschrittlichsten Mobilitätskonzepte?
Wolfram: Eine Stadt, die mir da auf Anhieb einfällt, ist Singapur, das ist sicherlich eine Vorreiterregion. Die haben im Moment eine Ausschreibung laufen, die das Verkehrsmanagement auf eine sehr allumfassende und integrierte Ebene heben soll.
Wien hat insbesondere beim öffentlichen Verkehr und bei dessen Vernetzung eine Vorreiterrolle. Und auch historisch gesehen hat man hier nicht den Fehler gemacht, Straßenbahnen und Ähnliches aus dem öffentlichen Verkehr zu eliminieren.
Eine Region die momentan versucht, innerhalb von ganz kurzer Zeit das Thema öffentlicher Verkehr auf eine ganz neue Ebene zu heben, ist Riad in Saudi Arabien. Dort ist man dabei, binnen kürzester Zeit ein komplett neues U-Bahn-System aus dem Boden zu stampfen, weil man weiß, dass anders das Verkehrsthema nicht mehr zu bewältigen ist. Es werden auf einen Schlag insgesamt sieben neue U-Bahn-Linien mit einer Länge von 175 Kilometern errichtet. Wir als Siemens haben zwei davon im Turnkey-Auftrag – sprich wir arbeiten in Konsortien mit anderen Firmen (insbesondere Baufirmen) zusammen und errichten jeweils die gesamte U-Bahn-Linie – beginnend mit Tunnelbohren, über Verlegung der Schienen, Installation der Stromversorgung und der Signalisierungstechnik sowie – last but not least – Lieferung der Fahrzeuge. Letztere werden in unserem Fertigungsstandort in Wien Simmering gebaut. Ausgelegt ist das Gesamtsystem auf einen vollautomatischen Betrieb.
APA-Science: Stichwort vollautomatisches System: In Nürnberg ist ja bereits eine fahrerlose U-Bahn im Einsatz - was konnte man daraus lernen, welche Vorzüge und Herausforderungen gibt es dabei?
Wolfram: Im U-Bahn-Bereich kann man im Hinblick auf fahrerlose bzw. automatisierte Systeme schon fast von „state of the art“ sprechen. Die U-Bahn in Wien fährt ja schon seit ihrer Betriebsaufnahme in den 70ern in einem automatisierten Betrieb. Es gibt zwar einen Fahrer, aber der ist nur mehr für die Abfertigung verantwortlich und erteilt mittels Knopfdruck die Fahrfreigabe. Anschließend wird das U-Bahn-Fahrzeug aus der Leitzentrale heraus von der Abfahrt bis zum Halt in der nächsten Station gesteuert, beschleunigt, fährt den Weg bis zur nächsten Station, bremst rechtzeitig wieder ab. Der Fahrer muss nur mehr in Notfällen eingreifen. Aufbauend auf diesen Erfahrungen ist nun der nächste Schritt von einem automatisierten hin zu einem fahrerlosen System möglich. Eine wichtige Rolle spielt dabei die Gesamtabsicherung des Systems, um auch Rückfallebenen zu haben, wenn der Regelbetrieb einmal unterbrochen ist. Sprich: Aus irgendeinem Grund kommt die U-Bahn im Tunnel zu stehen, wie kriege ich sie wieder raus, wie kann ich das, was sich im Fahrzeug abspielt, überwachen, wie kann ich Sicherheit im Allgemeinen und an den Bahnsteigen im Besonderen garantieren?
Nürnberg ist hinsichtlich der Absicherung der Bahnsteige eine Ausnahme, weil dort die Absicherung über Lichtschranken geschieht. Aber das ist speziell in Städten mit extrem hohen Fahrgastzahlen eigentlich nicht gang und gäbe. International geht der Standard in Richtung sogenannter Platform Screen Doors, also Bahnsteigtüren, die erst dann den Raum in Richtung Fahrstrecke öffnen, wenn die U-Bahn zum Stillstand gekommen ist.
Fast alle Ausschreibungen von Neubaustrecken im U-Bahnbereich gehen in Richtung fahrerloser Betrieb. Auch bei der U5 in Wien ist das der Fall. Wir rechnen uns bei der Vergabe Ende des Jahres gute Chancen aus.
APA-Science: Wie schätzen Sie die Akzeptanz von fahrerlosen Systemen bei den Fahrgästen ein?
Wolfram: Natürlich ist so etwas mit Umstellungen verbunden, schon rein emotional. Aber wie die Erfahrung aus jenen Städten, in denen fahrerlose Systeme im Einsatz sind, zeigt, erfolgt die Akzeptanz durch die Fahrgäste sehr rasch und am Ende des Tages ist das kein Thema mehr. Auch muss „kein Fahrer“ nicht zwangsläufig heißen, dass kein Begleitpersonal mehr auf den Zügen unterwegs ist. Im Grunde genommen schafft ein derartiges System sogar die Möglichkeit, Begleitpersonal deutlich sichtbarer auf U-Bahnen einzusetzen.
APA-Science: Sind die Vorteile von fahrerlosen Systemen auch quantifizierbar?
Wolfram: Wir gehen davon aus, dass eine Automatisierung des Betriebes den Durchsatz etwa um 20 bis 25 Prozent erhöht. Es gibt auch Regionen und Städte, wo wir eine Erhöhung um 50 Prozent hatten, aber das war eher auf eine spezifische Situation in der jeweiligen Stadt zurückzuführen. Auch wird durch die Mechanik der Bahnsteigtüren die Unfallgefahr minimiert. Jeder Unfall bedeutet neben Toten oder Verletzten auch eine Unterbrechung des Betriebes. Das automatisierte Fahren ist auch vorausschauend, führt zu gleichmäßigerem Fahrverhalten und damit auch zu einem geringeren Energieverbrauch.
APA-Science: Fahrerlose Systeme sind ja schon im Einsatz und das alles klingt technisch gesehen schon ziemlich ausgereift. Wo setzt man denn jetzt noch in der Forschung an?
Wolfram: Aus meiner Sicht geht die Entwicklung bei den U-Bahnen in drei Richtungen:
Einerseits werden die Informationssysteme für die Fahrgäste weiter verbessert werden. Dabei geht es u.a. um die zeitnahe Bereitstellung von Informationen über Anschlussverbindungen und wie diese Anschlüsse am besten zu erreichen sind, oder wie ich den Haltestellenbereich auf dem kürzesten Wege verlassen kann. Neben der Komfortsteigerung für die Fahrgäste sind damit auch handfeste betriebliche Vorteile verbunden, wenn die Fahrgäste den Ausstiegspunkt schneller verlassen und die U-Bahn rascher weiterfahren kann.
Das zweite ist das Thema Steigerung der Verfügbarkeit der Systeme – sowohl der Fahrzeuge als auch der Infrastruktur mit Hilfe einer vorausschauenden Wartung und Überwachung. Wir können heute schon als Siemens Daten aus den Fahrzeugen abgreifen und mit Hilfe von Algorithmen erkennen wo - beim Fahrzeug oder auf Seite der Infrastruktur - ein Ausfall zu erwarten ist und wo man daher vorausschauend eingreifen sollte, um diesen Ausfall später während des Betriebes zu vermeiden. Man nennt das „Predictive Maintenance“.
Und dann gibt es das Thema Energie. Ein zentraler Treiber des Energieverbrauches ist die Frage des Gewichtes. Hier gilt es zunächst mit Hilfe eines innovativen Leichtbaus beim Wagenkasten und beim Drehgestell Gewichtseinsparungen zu erzielen. Da das Gewicht mittlerweile in hohem Maße auch von Klimaanlagen, Heizungen etc. bestimmt wird, spielt das Gewichtsmanagement auch bei den Komponenten, die in die Fahrzeuge eingebaut werden, eine große Rolle.
Neben der Gewichtseinsparung setzen wir bei der Erhöhung des Wirkungsgrades an. Zum Beispiel werden uns neue Halbleiter-Technologien im Bereich der Umrichter für die Motoren (Stichwort: Siliziumkarbid) helfen, den Energieverbrauch zu reduzieren. Auch das Klimamanagement in den Fahrzeugen ist ein interessanter Ansatzpunkt – wie stark ist ein Fahrzeug besetzt, wie stark muss man daher im Winter heizen oder im Sommer kühlen? Dazu haben wir ja vor ein paar Jahren ein gemeinsam mit den Wiener Linien und anderen Partnern durchgeführtes Forschungsprojekt „EcoTram“ vorgestellt.
APA-Science: Wie schätzen Sie das Thema Inter- und Multimodalität des Verkehrssystems ein?
Wolfram: Intermodalität, Digitalisierung und Vernetzung nehmen zu: Wir gehen davon aus, dass bereits heute drei Viertel der Weltbevölkerung in irgendeiner Form vernetzt sind und dieser Anteil wird sich noch weiter erhöhen. Das zur Verfügung stellen oder die Nutzung dieser Kommunikationsbasis wird ein Thema sein. Wobei, wir müssen uns dabei immer bewusst sein, dass es da nicht nur um technische Fragen geht.
Wir haben rund um das Thema „Digitalisierung“ drei Aspekte: Was kann die Technologie? Wie schauen die organisatorischen Strukturen rundherum aus? Wenn wir über vernetzte Strukturen reden, dann geht es auch immer um Organisationsstrukturen, um Vertragsgestaltungen und gesetzliche Rahmenbedingungen.
Und der dritte Aspekt ist die Frage, wie sieht es mit der Akzeptanz aus? Das trifft nicht nur auf die Mobilität zu. Wir haben mit zum Beispiel der Stadt Wien eine Kooperation in der Seestadt Aspern. Dort wollen wir nicht nur neue Technologien ausprobieren, sondern wir haben gemeinsam mit der Stadt Wien von Anfang an gesagt, dass wir auch den soziologischen Aspekt dieser neuen Technologien betrachten wollen und lassen daher diese Forschungsarbeit von entsprechenden Experten begleiten. Ich denke, dass das Thema Akzeptanz, wie gehe ich emotional damit um, wie baue ich Ängste ab, dass dieser Aspekt bei all jenen Technologien die wir jetzt rund um das Thema „Vernetzung“ diskutieren, ein ganz entscheidender sein wird.
APA-Science: Ein Ausblick auf die Konferenz Urban Future in Graz?
Wolfram: Weltweit gibt es zwar die gleichen Trends rund um das Thema "Wie gestalten wir die Stadt der Zukunft". Hier einen Erfahrungsaustausch zu betreiben und zu sehen, womit sich andere beschäftigen, das ist mit Sicherheit sehr hilfreich. Man muss auch sehen, dass Asiaten anders an solche Themen herangehen als Amerikaner oder wir Europäer. Hier die unterschiedlichen Sichtweisen auf dieselben Fragestellungen zu sehen, ist für alle Beteiligten eine interessante Erfahrung.
Das Interview führte Mario Wasserfaller / APA-Science
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