"Wir müssen sozial differenzierter vorgehen"
Großstädte gelten zum einen als umweltbelastende Hotspots, zum anderen vermutet man in ihnen das nötige innovative Potenzial, um die Ziele des Klima- und Umweltschutzes zu erreichen. Das bezieht sich sowohl auf technologische und infrastrukturelle Veränderungen, die hier zuerst und am intensivsten platziert werden, als auch auf urbane Lebensstile, die am ehesten der Forderung nach Vermeiden von Wegen, dem Verlagern vom motorisierten Individualverkehr auf aktive Mobilität und das verträgliche Gestalten der Quartiere und entsprechenden Verhaltensweisen folgen. Auf der anderen Seite bringt das Stadtwachstum erhebliche Herausforderungen für die urbane Mobilität, birgt aber auch die Möglichkeit für soziale Innovationen aufgrund der kulturellen Vielfalt der ZuwanderInnen.
Mobilität sei ein menschliches Grundbedürfnis - so lautet der lobbyistische Spruch der Automobil-Industrie, wenn sie die "Freude am Fahren" suggeriert. Heutige Gesellschaften sind zwar mobil, sie müssen es aber auch sein, denn die Gestaltung des Alltages zwingt uns aufgrund der Verteilung der Siedlungsinfrastruktur von einem Ort zum anderen. Städte sind daher deshalb zunehmend attraktiv, weil hier die Wege kürzer sind.
Doch innerhalb der Stadtregionen sortieren sich die Wohnstandorte immer weiter aus: Die einkommensschwächeren Haushalte werden zunehmend an die Peripherie gedrängt, an die schlecht ausgestatteten und nicht so gut erreichbaren Standorte. Hier sind die Wege zur Haltestelle des öffentlichen Nahverkehrs weiter und der Bus kommt seltener. Noch dramatischer sind die Unterschiede im regionalen Maßstab: Je ländlicher der Raum, desto älter sind die Menschen und desto schwieriger ist der Zugang zum Mobilitätssystem, insbesondere dann, wenn das Auto fehlt und der Postbus nur zweimal am Tag kommt.
Die urbane Mobilität wird gegenwärtig jedoch von einem ganz anderen Thema geprägt: Junge (männliche) Erwachsene verzichten zunehmend auf ein eigenes Auto, manche sogar auf den Führerschein. Schuld an diesem neuern Trend sei eine "Kultur des Teilens und Tauschens" - dahinter steht jedoch eine Fülle von Anlässen und Ursachen: Geringes oder unsicheres Einkommen, Verlagerung von Konsumpräferenzen, gestiegenes Umweltbewusstsein oder schlicht zentralere Wohnstandorte und kürzere Wege zur Arbeit. Auf der anderen Seite bedienen die stationsungebundenen Carsharing-Angebote aber auch die Spontaneität, die Bequemlichkeit und befreien vom Sich-um-etwas-kümmern-Müssen.
Geht man den Gründen für eine unterschiedliche Mobilität genauer nach, dann spielen das Einkommen und die Haushaltssituation für ein unterschiedliches Verhalten schon noch eine Rolle, aber zunehmend werden Wertvorstellungen und Präferenzen in der Alltagswelt bedeutsamer, um die unterschiedlichen Mobilitätsstile zu erklären. Hierzu unterteilt man in soziale Milieus, die ein unterschiedliches Verhalten beschreiben und erklären und für die maßgeschneiderte Informations- und Partizipationsprozesse entwickelt werden können, um gezielt deren Mobilität zu beeinflussen.
Daneben gibt es eine Technologie- und Technikdebatte, die sich zum einen auf den Elektroantrieb resp. das Hybridfahrzeug als Hoffnungsträger richtet, um das post-fossile Zeitalter erreichen zu können. Zum anderen gilt die Einbettung in Informations- und Kommunikationsnetzwerke (ICT) als Voraussetzung dafür, um eine Inter- und Multimodalität leichter zu organisieren. Smarte Grids, über Algorithmen und Big Data vernetzt, werden paradoxerweise als "intelligent" bezeichnet, sind aber Voraussetzungen für das "Internet der Dinge" und das autonome Fahren. Letzteres wird immer wieder gepriesen und mit der "Ageing Society" positiv in Verbindung gebracht. Technisch wird das autonome Fahren früher und wahrscheinlich auch sicherer funktionieren als die versicherungstechnischen Aspekte geklärt sind. Dann aber werden 14-Jährige schon und 104-Jährige noch Auto "gefahren". Das wiederum führt zu einer deutlichen Zunahme der Zahl an Fahrzeugen in der Stadt, die den Menschen noch mehr Lebensraum nehmen.
Große Hoffnung dafür, die 20-20-20 Ziele des Umwelt- und Klimaschutzes wirklich zu erreichen, wird auf die aktive Mobilität gerichtet. Doch die Vorliebe, zu Fuß und mit dem Fahrrad unterwegs zu sein - sei es aus Gründen des Umweltschutzes, der eigenen Gesundheit oder um Kosten zu sparen - ist auf bestimmte soziale Milieus beschränkt. Für etwa die Hälfte heutiger StadtbewohnerInnen ist das eigene Auto wichtiger Bestandteil der Identitätsstiftung, ein symbolischer Beleg dafür, noch dabei und nicht abgehängt worden zu sein.
Zudem muss dem Dilemma begegnet werden, dass jede technologische Effizienzsteigerung sich nicht in dem Maße auswirkt, wie vonseiten der Ingenieure angenommen, weil sie gleichzeitig das Verhalten von einem Teil der Menschen dahin gehend beeinflusst, im Zuge der gewonnenen Zeit und des eingesparten Geldes Dinge tun, die wiederum einen weiteren Energieverbrauch nach sich ziehen (Rebound-Effekt). Gegenwärtig wird daher die Hoffnung daraufgelegt, gezielt auf das Verhalten sozialer Milieus einzuwirken (Suffizienzsteigerung).