Virtual Vehicle: Schritt für Schritt zum autonomen Auto
Das Virtual Vehicle Center ist ein international agierendes Forschungs- und Entwicklungszentrum, das sich mit der anwendungsnahen Fahrzeugentwicklung und zukünftigen Fahrzeugkonzepten für Straße und Schiene befasst. Im E-Mail-Interview mit APA-Science erklärt Geschäftsführer Jost Bernasch, was es noch alles braucht, bis autonome Fahrzeuge das Straßenbild beherrschen und das Lenkrad vielleicht eines Tages obsolet wird.
APA-Science: Wann fährt Ihrer Einschätzung nach das erste, offiziell für den Straßenverkehr zugelassene, selbstfahrende Auto auf Österreichs Straßen - und was braucht es noch alles dazu an Rahmenbedingungen, aber auch an Forschung?
Bernasch: Seitens der zuständigen Stellen auf Bundes und Landesebene wurde uns für Sommer 2016 signalisiert, dass ab diesem Zeitpunkt teilautomatisierte Fahrzeuge (SAE-Level 3, das heißt selbst lenkend und automatische Geschwindigkeitswahl, der Fahrer muss das Auto jedoch ständig überwachen) unter definierten Rahmenbedingungen auf definierten Straßen im öffentlichen Verkehr teilnehmen werden können. Wir sehen es sehr positiv, dass die Behörde mit Hochdruck daran arbeitet, die dafür notwendigen rechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Was heißt es, vom teilautomatisierten hin zum vollautomatisierten Fahren zu kommen, also zeitweise die Verantwortung als Fahrer abzugeben oder gar ein Robotertaxi? Auch hier wird schrittweise umgesetzt, zuerst auf bestimmten Autobahnabschnitten mit "hier darf das Auto autonom fahren" Abschnitten, dann weitere Straßentypen und weitere Funktionen. Wir können uns gut vorstellen, dass sich daher auch der Gesetzgeber schrittweise und evolutionär dieser Zulassung nähern wird.
Wie rasch der Gesetzgeber hier agieren wird müssen, wird auch ausschlaggebend von der Entwicklung in anderen Ländern in Europa abhängen. Je stärker der Kundenwunsch nach automatisierten Fahrzeug am europäischen Markt wird, desto schneller werden die für vollautomatisiertes Fahren notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen werden.
Erste Abschnitte auf Österreichs Straßen können wir uns im Zeitraum um 2020 gut vorstellen.
APA-Science: Was erhoffen Sie sich von der geplanten Teststrecke in der Steiermark und welche Rolle spielt dabei das Kompetenzzentrum Virtual Vehicle?
Bernasch: Eine Teststrecke ermöglicht beispielhaft effizientes Testen dieser herausfordernden Technologien, welchen es in automatisierten Fahrzeugen bedarf. Teststrecke heißt hier aber vor allem, dass diverse (öffentliche) Strecken, insbesondere mit kurvigen Berg- und Talstrecken, (einröhrigen) Tunneln und anderen anspruchsvollen Abschnitten genutzt werden dürfen. Dies kann unter definierten Randbedingungen bei öffentlichen Strecken geschehen. Effizient Testen bedeutet, dass in diesen Streckenabschnitten unterschiedlichste Tests durchgeführt werden können. Relevante Teststellungen sind der Datentransfer zu und von den Autos, die Einflüsse der Bodenmarkierung auf die Querführung des Fahrzeuge, das Fahrverhalten von Fahrzeugen auf anspruchsvollen Strecken (kurviger Fahrbahnverlauf, Tunnels etc.) bei unterschiedlichsten Witterungen oder das Verhalten im gemischten Verkehr (autonome und herkömmliche Fahrzeuge).
Dafür ist es z.B. notwendig, dass eine gute und gesicherte Abdeckung des Mobilfunknetzes gegeben ist, verschiedene Bodenmarkierungen vorhanden sind, Kameraüberwachung auf der Autobahn, diverse Bodenbeläge und Witterungsverhältnisse sowie geologische Variabilität.
Je mehr verschiedene Testszenarien an einer Teststrecke adressiert werden können, desto attraktiver ist es für Fahrzeughersteller und auch Zulieferer diese Teststrecke zu nutzen. Es könnten diverse mobile Testlabors in unterschiedlichen Gegenden in der Steiermark zusammengezogen werden.
Auf den Punkt gebracht: Eine Teststrecke in der Steiermark bedeutet für die heimischen Betriebe einen konkreten Anknüpfungspunkt, um an diesem riesigen Wachstumsmarkt der Automobilindustrie größtmöglich zu partizipieren. Dies gilt auch für uns als Forschungszentrum, wir würden z.B. in EU-Forschungsprojekten mit Industriepartnern die Tests gerne in der Steiermark durchführen.
APA-Science: Was sind derzeit die wichtigsten Stoßrichtungen in Forschung und Entwicklung in diesem Bereich, und wo herrscht der größte Forschungsbedarf?
Bernasch: Beispiele für wesentliche Stoßrichtungen:
- Robustere und zuverlässige Sensorik bei jeder Wettersituation und Jahreszeit (salzen von Straßen im Winter ist ein Riesenproblem für Kameras)
- Hochintegrierte Sensorik (Miniaturisierung)
- Entwicklung kostengünstiger Sensoren (z.B. Radar und Laserscanner) sowie kostengünstiger Hochleistungsrechner (parallel Tausende Rechenkerne)
- Funktionale Sicherheit (das heißt z.B. Ausfallssicherheit von Systemen im Fahrzeug) und Cyber-Security (Schutz vor unbefugten Zugriff auf sicherheitskritische Funktionen des Fahrzeuges von außen)
- Entwicklung von geeigneten numerischen Fahrermodellen ("driver distraction", take over / hand over)
- Entwicklung von geeigneten dynamischen Umgebungsmodellen: Kontextinterpretation, Kontextklassifizierung von dynamischen Szenarien ("context awareness")
- Definition und Generierung passender Verkehrsszenarien in deren Zusammenspiel das automatisierte Fahrzeug seine Fahrmanöver ableitet
- Nicht zu vergessen sind die Forschungsbereiche "Selbstlernende Algorithmen" und "automatische Testfallgenerierung". Laut Prof. Winner (TU Darmstadt) sind rund 240 Mio. Testkilometer für das Testen von vollautomatisierten Fahrzeugen erforderlich. Dies würde nicht nur Milliarden kosten sondern auch zeitlich kaum machbar sein.
Daher werden die Themen selbstlernende Algorithmen, automatische Testfallgenerierung und virtuelle Validierung automatisierter Systeme mit Hochdruck in der Forschung vorangetrieben.
APA-Science: Woran forscht Ihr Kompetenzzentrum im Zusammenhang mit autonomen Autos konkret?
Bernasch: Wir forschen am Thema "szenario-basierter virtueller Systemtest" und "intelligenter Hardware-in-the-loop Prüfstand", um damit eine Validierung und Verifikation von aktiven Sicherheitssystemen sowie von automatisierten Funktionen im Fahrzeug abzuleiten und somit Millionen Testkilometer einsparen zu können. Anwendungen dafür sind z.B. Kooperativer Notbrems-Assistent, kooperatives ACC (adaptive cruise control) und automatisierte Fahrfunktionen wie z.B. der Highway-Chauffeur oder Platooning.
- Hardware/Software-Architektur für Hochleistungsrechner im Fahrzeug und Integration von neuesten Rechenchips (Multicore-/Manycore-Technologie), um den im Vergleich zu konventionellen Fahrzeugen hohen Bedarf an Rechenleistung in automatisierten Fahrzeugen zu realisieren (z.B. Dynamisches Umgebungsmodell in Echtzeit).
- Fusion von Sensordaten (Radar, Kamera, Laser, GPS/INS), um ein realistisches Abbild der Umwelt zu bekommen, kombiniert mit einer Datenreduktion und effizienten Kommunikation mit anderen Fahrzeugen und der Infrastruktur (car-to-X)
- AUTOSAR Adaptive Platform ("der neue AUTOSAR Standard"): in Zusammenarbeit mit BMW forschen wir an der zukünftigen Steuergerätearchitektur für automatisierte Fahrzeuge, um große kognitive Datenmengen in Echtzeit und standardisiert verarbeiten zu können
- Methoden, um die numerische Simulation einzelner Fahrzeugfunktionen zu einer Gesamtsystemsimulation zusammenzufassen. Damit können die Wechselwirkungen der einzelnen simulierten Funktionen untereinander sowie die Funktionsweise des Gesamtsystems in komplexen Szenarien analysiert werden.
APA-Science: Werden autonome Fahrzeuge hauptsächlich bereits in Richtung E-Autos konzipiert oder spielt die Art der Motorisierung noch eine untergeordnete Rolle?
Bernasch: Bei automatisierten Fahrzeugen spielt Motorisierung eine eher untergeordnete Rolle. Ein mit VKM ausgestatteter 7er BMW oder Audi A8 hat heute in etwa die gleiche Funktionalität an Automatisierung im Fahrzeug wie der oft in der Presse zitierte "selbstfahrende" Tesla. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass die etablierten Fahrzeughersteller unterschiedliche Konzepte verfolgen, ihre Kunden mit diesen neuen Fahrsystemen vertraut zu machen. Tesla setzt auf Kunden, die Freude und Neugierde verspüren, wenn sie neue Fahrzeugfunktionen ausprobieren können. Es gibt rasche Updates und wenn was nicht vollständig klappt, dann erfolgt ein Bug fix im nächsten Software-Update. Dem jeweiligen Fahrer kommt somit die Rolle eines "Testfahrers" zu, der die Aufgabe hat, das Fahrzeug im ausgeprägten Maße zu überwachen. BMW und andere hingegen scheinen hier den Weg zu gehen, ihren Fahrern nur Funktionen anzubieten, dessen Funktionssicherheit ausgiebig erprobt worden ist. Damit rücken z.B. BMW, Audi und Daimler den jeweiligen Nutzen dieser Funktion für den Fahrer in den Vordergrund und nicht den Reiz des Neuen, das der Fahrer bitte ausprobieren soll.
APA-Science: Wer oder was sind die Treiber in der Entwicklung autonomer Fahrzeuge?
Bernasch: Das BMVIT nennt in aktuellen Studien folgende vier Treiber als Hauptfaktoren: Erhöhen der Verkehrssicherheit, Reduktion von Emissionen (Abgase, Lärme) speziell durch energieoptimiertes Fahren, Ermöglichen der individuellen Mobilität bis in hohe Alter (ageing society), wirtschaftliches Wachstum und Innovationspotenzial für eine für Europa wesentliche Industrie - die Automobilindustrie.
Auslöser der Entwicklung von autonomen Fahrzeugen ist der technologische Fortschritt. War es für die E-Mobilität die Entwicklungen im Bereich Batterietechnologie, so ist es für autonome Fahrzeuge die Entwicklung der elektrischen Lenkung für Mittel- und Oberklassenfahrzeuge im Jahr 2010/2011. Die Möglichkeit die Lenkbewegungen des Fahrers durch elektronische Lenkbewegungen zu überlagern, ist ein wesentlicher Grundstein für automatisierte Fahrzeuge. Ebenso der dramatische Verfall der Preise im Bereich Computerelektronik und Sensorik, die eine kostenmäßig attraktive Lösung dieser neuartigen Funktionen für die Fahrer ermöglichen.
APA-Science: Wie stark und auf welche Art und Weise werden autonome Fahrzeuge die Mobilität und unser Mobilitätsverhalten - vor allem in den Städten - verändern?
Bernasch: Das Thema, was bedeuten automatisierte Fahrzeuge für unsere Städte, wird im Moment stark untersucht. Chancen auf deutlich weniger Fahrzeuge mit car-sharing und massiver Einsparung von Parkplatzflächen sowie einem höheren Fahrzeugdurchsatz bei intelligenter Fahrweise stehen Befürchtungen gegenüber, dass eine Verlagerung vom öffentlichen Nahverkehr auf autonome Fahrzeuge (car sharing) erfolgt sowie neue Nutzergruppen (z.B. Ältere Personen, Schüler) das Verkehrsaufkommen erhöhen. Ähnliches gilt für den individualisierten und automatisierten Nutzlastverkehr, der Potenziale einer (leisen und) automatisierten Nachtbelieferung in sich trägt, aber auch zum Ersetzen eines LKWs durch 20 automatisierte Kleinnutzfahrzeuge führen kann.
APA-Science: Ein kleiner Ausblick auf die Urban Future Konferenz in Graz - Ihre Erwartungen?
Bernasch: Eine sehr spannende Konferenz, auf der die Entwicklung der Städte in der Zukunft beleuchtet wird, insbesondere auch in einer Session zum automatisierten Fahren, in der wir rechtliche, gesellschaftliche, urbane und technische Aspekte des autonomen Fahrens in der Zukunft beleuchten werden.
Das Interview führte Mario Wasserfaller / APA-Science
Service: Jost Bernasch leitet auf der Urban Future Konferenz am 3. März 2016 die Session "Autonomes Fahren (AD)". Ausführliche Informationen zu den Vortragenden und den Themen gibt es unter http://www.urbanfuture.at/programm/.