Wissenschafter übersetzen Grundlagenforschung in E-Health-Technologien
Im Bereich der medizinischen Diagnostik, Therapie oder Ausbildung gibt es traditionell viel Potenzial für den Einsatz moderner digitaler Technik. Auch heimische Wissenschafter, Techniker und Unternehmer sind in dem Feld stark engagiert und bemühen sich um die Übersetzung von Wissen aus der Grundlagenforschung in marktfähige Produkte. Nicht umsonst waren beispielsweise gleich zwei E-Health-Anwendungen bei der Preisverleihung des kürzlich erstmals vergebenen Staatspreises "Digital Solutions" erfolgreich. APA-Science stellt exemplarisch vier unterschiedliche Innovationen aus dem Bereich vor.
Den neuen Staatspreis, mit dem hervorragende digitale Produkte, Dienste und Anwendungen in Österreich ausgezeichnet werden, konnte sich das Wiener Technologie-Start-up SCARLETRED sichern. Seinen Ausgang nahm die Entwicklung der Produktidee im Rahmen einer klinischen Arzneimittelstudie, die Unternehmensgründer Harald Schnidar im Jahr 2011 durchgeführt hat. Mittlerweile hält das Start-up mehrere Patente und hat nach vier Jahren Entwicklungszeit mit "SCARLETRED®Vision" ein zugelassenes Medizinprodukt am Markt.
Dabei handelt es sich um eine mobile Smartphone-App, mit der Hautveränderungen einfach und objektiv dokumentiert werden können. "Das Produkt ist in der Handhabung vergleichbar mit dem eines Thermometers, nur anstelle von Hauttemperatur vermisst unsere App Hautfarben und liefert Zahlen zur Größe und zeitlichen Veränderung der untersuchten Hautregionen", so Schnidar.
Technologie mit hohem Einspar-Potenzial
Bisher brauchte man für solche Messungen teure Spektrophotometer. Bei Diagnosen und Folgeuntersuchungen bedurfte es einer subjektiven Beurteilung durch Mediziner, heißt es seitens des Unternehmens. Hautveränderungen, wie Rötungen, Pigmentierung, Schuppung oder Wunden, lassen sich dank der Wiener Innovation nun aber erstmals ortsunabhängig messen und in weiterer Folge vergleichen. Bei der Beurteilung orientiert man sich am in der Farben- und Lackindustrie standardisiert eingesetzten Farbraum CIE-LAB*.
Mit dem Produkt könnten Milliarden an Kosten im Gesundheitsbereich eingespart werden, in dem etwa neue Medikamente rascher und sicherer entwickelt werden, ist man bei SCARLETRED überzeugt: "Ineffiziente Therapien oder schlecht wirkende Medikamente aber auch Nebenwirkungen können rascher erkannt und Behandlungen effizient verbessert werden". Bei chronischen Wunden könne so beispielsweise einfach nachvollzogen werden, ob eine Antibiotika-Therapie tatsächlich ihre Wirkung entfaltet.
Seit März 2016 wird das Produkt nun an Unternehmen aus der Biopharma-Branche oder an Institutionen, die klinische Studien durchführen verkauft. Da das Produkt auf dem Smartphone anwendbar ist, peilt man als nächsten Schritt den Eintritt in den Konsumentenmarkt an.
Radiologie-Suchmaschine der nächsten Generation
Der Innovationspreis "Digital Solutions", der im Rahmen des Staatspreises an noch nicht am Markt befindliche Entwicklungen vergeben wurde, ging an die von Wiener Forschern konzipierte bildbasierte Suchmaschine "RadiologyExplorer" des Start-ups "contextflow" - einer Ausgründung der Medizinischen Universität Wien zusammen mit der Technischen Universität (TU) Wien. Das Unternehmen bietet sozusagen eine Abkürzung im Umgang mit den in der modernen Medizin so zahlreich anfallenden Bildern aus Röntgen-, Magnetresonanz- oder Computertomografie-Untersuchungen. Mit neuesten Methoden des maschinellen Lernens durchforstet die Software Bilddatenbanken automatisch. Auch 3D-Bilder und Textinformationen können berücksichtigt werden.
Die Algorithmen-Entwicklung nahm 2010 ihren Ausgang im Rahmen des von der EU geförderten Projektes "KHRESMOI" an der Wiener Uni-Klinik für Radiologie und Nuklearmedizin. "Das interdisziplinäre EU-Forschungsprojekt KHRESMOI hat wichtige Fortschritte ermöglicht. Das aus der Meduni Wien ausgegründete Start-Up Contextflow wird die Weiterentwicklung und Anwendung dieser modernen Technologien in der medizinischen Praxis umsetzen", so die Vizerektorin für Forschung der MedUni, Michaela Fritz.
Die entwickelten Methoden finden Verbindungen zwischen den Diagnosen und den zugrunde liegenden Bilddaten. "Die Technologie unterstützt Radiologen bei der Erstellung von genaueren Befunden in kürzerer Zeit, indem sie ermöglicht, während der Befundung direkt und schnell auf relevante Referenzfälle zuzugreifen", heißt es seitens des Unternehmens, das bereits Tests in vier Ländern durchgeführt hat. Für den Leiter der Uni-Klinik für Radiologie und Nuklearmedizin, Christian Herold, ist die Entwicklung "ein wichtiger Schritt in der Anwendung von Machine Learning Algorithmen im klinischen Alltag. Eine Suchmaschine, die das Finden relevanter Bilddaten und den quantitativen Vergleich von Fällen erlaubt, ist in der Radiologie hochrelevant." Beim Schritt aus dem universitären Umfeld wurde das junge Unternehmen vom "Innovation Incubation Center" der TU Wien und dem Technologie Transfer Office (TTO) der MedUni unterstützt.
Frühchensimulator aus Wien
Letzteres hat auch die Firma "SIMCharacters" auf dem Weg in den Mark unterstützt. Das Unternehmen hat einen extrem realistischen "Simulator" namens "Paul" entwickelt, der einem Kind nachempfunden ist, das in der 27. Schwangerschaftswoche geboren wurde. "Vater" ist der Neonatologe und Frühgeborenenintensivmediziner Jens Schwindt. "Für wirklich hocheffektive Trainings, bei denen es nicht nur um die medizinischen Dinge geht, sondern gerade um Skills wie Teamarbeit oder Führungsverhalten, braucht man Simulatoren, die realistischer sind und dem Teilnehmer ermöglichen, tief in das Trainingsszenario einzutauchen", so der Firmen-Chef.
Beim Training liegt der Simulator im Mittelpunkt. Auf die Szenerie sind mehrere Kameras gerichtet. So können die Trainer den Ärzten, Schwestern und Pflegern von einem Nebenraum aus zusehen und sie mit Problemstellungen konfrontieren, indem sie bei Paul etwa die Sauerstoffsättigung sinken lassen oder den Ausfall eines Teiles der Lunge herbeiführen - seine Atmung verändert sich dann und er läuft blau an. Je nachdem, wie das Team reagiert, kehren Pauls normale Hautfärbung und die simulierten Vitalfunktionen in den grünen Bereich zurück. Das Wiener Unternehmen startete vergangenen Herbst mit der Serienproduktion.
Neue Reha-Methode: Spielen am Tablet für "virtuelle Sensibilität"
Tablets haben in den letzten Jahren den Weg in unseren Alltag gefunden. Durch die intuitive Handhabung eröffnen sich auch neue Anwendungen für Rehabilitationsverfahren. Angesichts dessen hat das Ludwig Boltzmann Institut für experimentelle und klinische Traumatologie zusammen mit der Fachhochschule Technikum Wien ein Computerprogramm entwickelt, das diese bestehenden Verbindungen zwischen visuellem Cortex und somatosensorischem Cortex spielerisch stimuliert und so eine virtuelle sensorische Erfahrung auslöst.
Kinästhetische Verfahren - das Denken virtueller Bewegungsabläufe und Erkennen von Gegenständen - sollen zu einer weiteren Potenzierung dieses Effekts führen. Nach Regeneration des Nervs ist somit das zuständige somatosensorische Areal noch vorhanden und das Wiedererlernen von gezielten Bewegungen wird beschleunigt. Zielgruppe des Programms sind unter anderem Patienten nach Verletzung und Wiederherstellung des Nervus Medianus ("Mittelarmnerv") oder des Nervus Ulnaris ("Ellennerv").
"Wenn wir etwas ansehen und berühren, stimulieren ungefähr 50 Prozent der Gehirnzellen der visuellen Hirnrinde Gehirnzellen des somatosensorischen Cortex. Das heißt, was wir sehen, beeinflusst und moduliert maßgeblich das 'Gesamtbild' der sensorischen Erfahrung", erläuterte LBI-Forscher David Hercher gegenüber APA-Science. Sei nun nach einer Verletzung eines peripheren Nervs die Sensibilität beispielsweise des Zeigefingers nicht mehr vorhanden, könnten die zuständigen Nervenzellen trotzdem noch über das visuelle System stimuliert werden. "Das dient dem Erhalt dieses Hirnareals für die Funktion 'Spüren', da ansonsten unser Gehirn dieses Areal anders nutzen würde und man dieses 'Spüren' folglich neu lernen müsste, sobald die Nerven regeneriert sind", veranschaulichte der Wissenschafter den dahinterliegenden Mechanismus. Dieses "Reservieren" des zuständigen Hirnareals über den audiovisuellen Umweg sei die Grundlage für das entwickelte Rehabilitationsprogramm "Virtuelle Sensibilität".
Derzeit sind Hercher zufolge mehrere Tablets im klinischen Einsatz. Der Forscher ist im Gespräch mit einem Softwareentwickler, um das Rehabilitations-Spiel weiterzuentwickeln und für diverse Endgeräte nutzbar zu machen. "Wir möchten dem Arzt auch die Möglichkeit geben, spezielle Levels für den Patienten - Stichwort personalisierte Medizin - einzustellen", erklärte der Forscher. Noch kein Thema sei, Patientendaten zu speichern und auszuwerten - hier seien noch zu viele Fragen der Datensicherheit offen -, auch wenn man in einem Test damit positive Erfahrungen gemacht habe. Und weil die Regeneration sehr lange dauere - Monate und Jahre -, sei es ganz wesentlich, das Spiel so interessant zu machen, dass die Patienten auch über einen so langen Zeitraum bei der Stange blieben.