"Augmented Intelligence" wird den Arzt nicht ersetzen
Täglich werden irgendwo auf der Welt wissenschaftliche Artikel, Bücher und Richtlinien veröffentlicht, täglich wächst der Berg an Daten in den Spitälern - aus Laboren, bildgebenden Verfahren, Audio- und Videodateien oder elektronischen Patientendatensystemen. Den Überblick auch nur in einem medizinischen Teilgebiet zu wahren, gelingt kaum mehr. Mit dem Geschäftsbereich "Watson Health" und der selbstlernenden Technologie-Plattform "Watson Health Cloud" versucht der US-amerikanische IT-Dienstleister IBM seit 2015, Einsicht in große Datenmengen zu bringen.
In der Cloud wurden in einem Jahr mehr als 300 Millionen Patientendaten und 30 Milliarden medizinische Bilder gesammelt. Die Daten werden anonymisiert, geteilt und mit den Daten von Kliniken und Forschungen kombiniert. "Alle Daten und Erkenntnisse bleiben in den Unternehmen. Sie entscheiden zu jedem Zeitpunkt selber, welche Daten sie verwenden oder teilen möchten und sie kennen die Qualität der Datenbasis", heißt es dazu von IBM Österreich auf Anfrage von APA-Science. Manipulationen seien daher nahezu unmöglich, die Lösungsvorschläge des Systems nachvollziehbar.
Unstrukturierte Daten als Herausforderung
Derzeit verdoppeln sich medizinische Daten alle zwei Jahre - die große Masse davon liegt in unstrukturierter Form vor. Übliche Computersysteme, die auf Datenbanken, Tabellen oder Ähnliches angewiesen sind, können mit diesen Informationen nichts anfangen. Das kognitive System "Watson" hingegen kann alle Datenquellen bewältigen: basierend auf neuronalen Netzwerken, Machine Learning, Textanalyse-Tools und Spracherkennung ist es in der Lage, gesprochene und geschriebene Sprache sowie Bilder zu verstehen. Es erfasst Inhalte und setzt sie mit anderen Informationen in Zusammenhang. Durch Interaktion mit Experten - in natürlicher Sprache - lernt das System permanent dazu. Watson spricht neben Englisch auch Deutsch, Koreanisch, Portugiesisch, Spanisch, Japanisch, Arabisch, Französisch und Italienisch. Eingesetzt wird das System derzeit in der Onkologie, Gentechnik, Biowissenschaft, Bildgebung, Pflege und im öffentlichen Bereich.
Nur 20 Prozent des Wissens, das Ärzte für Diagnosen und Therapieentscheidungen verwenden, sind Schätzungen zufolge evidenzbasiert. Das führe dazu, dass eine von fünf Diagnosen falsch oder unvollständig sei, heißt es bei IBM Österreich. Watson könne 200 Millionen Textseiten in drei Sekunden lesen. Durch Cognitive Computing ließen sich neue Zusammenhänge herstellen oder Grundlagen für eine Entscheidung liefern - die Technologie unterstütze Ärzte aber nur. Letzten Endes sei es immer der Mensch, der eine Entscheidung treffe. Bei IBM spricht man in dem Zusammenhang deshalb auch lieber von "Augmented Intelligence" ("erweiterte Intelligenz") anstatt "Artificial Intelligence", oder "Mensch mit Maschine". Derzeit habe die Technologie eine teilweise höhere Trefferquote als der Mensch, heißt es seitens des Unternehmens. Fakt sei: Watson sei wie ein Kind, es lerne durch Interaktion und werde mit Training immer besser.
Einzug auch in Österreich und Deutschland
Während kognitive Technologien im englischsprachigen Raum bereits eingesetzt werden, ist man in Österreich und Deutschland derzeit erst dabei, Watson zur Diagnose und Behandlung bei mehreren Kunden zu pilotieren bzw. einzuführen. Eine Kooperation gebe es etwa mit dem Münchner Leukämielabor (MLL), um einen neuen Prototypen von kognitiven Technologien zu entwickeln und die wissenschaftliche Entwicklung von Therapiemöglichkeiten gegen Leukämie zu unterstützen. Angewandt wird Watson auch am Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen der deutschen Rhön-Klinikum-AG und unterstützt dort Ärzte bei der Suche nach den richtigen Diagnosen.
Eines der wichtigsten Einsatzgebiete für Watson ist IBM Österreich zufolge jedoch die Krebsforschung. Aktuell arbeitet IBM in den USA mit 14 Kliniken, unter anderem dem Memorial Sloan Kettering Cancer Hospital, in einem Pilotprojekt daran, die Technologie über einen längeren Zeitraum hinweg individuelle Daten von Krebspatienten analysieren und bewerten zu lassen. Dazu gehören elektronische Patientenakten, Studien, krankenhauseigene Behandlungsrichtlinien und Datenbanken. Der Arzt erhält eine Liste möglicher Behandlungsoptionen mit einer prozentuellen Angabe, welche am besten passen könnte, und einer Begründung samt Quellenangaben.
Eine Kooperation gibt es laut den Angaben über "Watson for Drug Discovery" auch mit dem Pharmakonzern Pfizer, um die immunonkologische Forschung (Anm.: dabei wird das menschliche Immunsystem genutzt, um Krebs zu bekämpfen) voranzutreiben.
Im Bereich "Population Health Management (PHM)" laufe eine Kooperation mit Siemens Healthineers. Hierbei sollen unter anderem Gesundheitssysteme und Krankenhäuser dabei unterstützt werden, eine evidenz- und ergebnisorientierte medizinische Versorgung zu erreichen. Vor allem chronische Krankheiten stellen einen großen Kostenfaktor dar - eine bessere Planung und Steuerung soll hier gegenwirken.