Digitalisierung hat Datendschungel erst teilweise durchdrungen
Führt das Mammografie-Screening tatsächlich zu weniger Brustkrebs-Toten? Wie gut sind Österreichs Diabetes-Patienten eigentlich eingestellt? Informationen darüber gebe es im Gesundheitssystem zwar, sie sind aber vielfach nicht einseh- oder gar wissenschaftlich auswertbar. Die Digitalisierung der Medizin habe zwar mancherorts schon zu mehr Transparenz geführt, in vielen Bereichen sei der Datendschungel aber noch sehr dicht, so die Einschätzung von Experten.
In die Vorsorgeuntersuchung fließen in Österreich etwa jährlich 100 Millionen Euro. Es stelle sich die Frage, was man dafür bekomme, sagte Martin Sprenger, Leiter des Lehrgangs "Public Health" an der Medizinischen Universität Graz im Gespräch mir APA-Science. Seine Antwort: "Wir können es nicht sagen."
Grundlagen für faktenbasierte Politik fehlen vielfach
So sei es leider in mehreren Bereichen im Gesundheitssystem. Das war auch der Tenor bei einem vom Wissenschaftsministerium veranstalteten "Science Talk" mit dem Titel "Schwerpunkt Vorsorgemedizin - Weniger ist mehr?". Experten aus dem Bereich der Gesundheitsprävention zeichneten dort das Bild einer relativ inkonsequenten einschlägigen Politik. Von der viel beschworenen faktenbasierten Politik sei Österreich noch immer weit entfernt. Daran hat auch die fortschreitende Digitalisierung noch nicht in allen Bereichen Entscheidendes verändert. Neben methodischen Schwierigkeiten bei Untersuchungen könne die Wissenschaft oftmals über die Wirksamkeit von Maßnahmen keine gesicherte Auskunft geben, weil schlicht die dazu notwendigen Daten entweder fehlen oder nicht sinnvoll zusammengeführt werden können, hieß es.
Ein Beispiel dafür seien die umfassenden Gesundheitsinformationen, die vor, bei und nach der Geburt im Zuge der Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen erhoben werden, die in den meisten Fälle das gelbe Heftchen aber nie verlassen. Ähnlich sei es mit den Daten zu den schulärztlichen Untersuchungen, die laut dem ehemaligen Vorstand der Abteilung Allgemein- und Familienmedizin an der Medizinischen Uni Wien, Manfred Maier, vielfach "in der Schublade" landen. Bei der Diskussion wurde auch der Impfpass angeführt, der zwar wichtige Informationen enthält, in der medizinischen Praxis jedoch oft nicht greifbar sei.
Was passiert nach dem Verdacht?
Wenn Daten im Mutter-Kind-Pass oder bei Schularzt-Untersuchungen bereits erhoben werden, wäre es für Sprenger im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung des Medizin-Systems "generell schon wünschenswert, diese auch einzuspielen". Man müsse natürlich aufpassen, was dann damit passiert, vor allem auch, weil es sich hier um "unheimlich gesunde Lebensphasen" handle, in der die Gefahr der Überdiagnosen entsprechend groß sei.
Eine gesundheitspolitisch interessante Frage sei aber, was mit jenen Schülern passiert, die der Schularzt zu weiteren Untersuchungen schickt und wie viele sich davon als falsch positive Verdachtsfälle entpuppen. Genau das wäre laut Sprenger auch ein Kriterium, das im Zusammenhang mit der Vorsorgeuntersuchung interessant ist, die ja ebenfalls Verdachtsbefunde liefert.
Eine Frage der Verbindung
Wie viele davon sich aber als zutreffend herausstellen - und damit, eine Einschätzung einer Zahl an tatsächlichen Erkrankungen, auf die die Vorsorgeuntersuchung den entscheidenden Hinweis liefern - könne man aber nicht sagen. Dazu müsste die "fragmentierte Datenlandschaft" vom Verdachtsbefund zur Folgetestung nämlich verbunden werden. Doch das ist noch nicht der Fall und damit für Sprenger "aktuell ein Riesenproblem".
Das gelte auch für das jährlich etwa 50 bis 60 Millionen Euro teure Brustkrebs-Früherkennungsprogramm ("Mammografie-Screening"). Wie viele der dabei gefundenen Verdachtsfälle in Folgeuntersuchungen bestätigt werden, liege im Dunkeln. Auch im ersten offiziellen Bericht zu dem Screening wurde festgestellt, dass es derzeit kaum möglich sei, die Ergebnisses des Programms zu analysieren. "Das ist erschreckend, weil wir das Programm ja eigentlich evaluieren wollen", sagte Sprenger. Hier zeige sich: Die verstreuten Daten im heimischen Gesundheitssystem kämen häufig einfach nicht dort an, wo man sie gesammelt bräuchte, um sinnvolle und belastbare Schlüsse daraus zu ziehen.
Stationärer Bereich gut erschlossen, Primärversorgung als "Blackbox"
Für den Forscher vom Grazer Institut für Sozialmedizin und Epidemiologie geht es vor allem um die Digitalisierung des Versorgungsprozesses und weniger um die Digitalisierung des Individuums, im Sinne des Gesundheitsverhaltens. Erstere sei im stationären Bereich in Österreich mittlerweile "nicht so schlecht entwickelt" und im Grunde genommen bundesweit einigermaßen einheitlich.
Im Primärversorgungsbereich sehe es dagegen ganz anders aus. Man könne überspitzt sagen, dass hier jeder Arzt sein eigenes Ding mache. Die einzigen einheitlichen Informationen sind die Abrechnungsdaten und die Informationen über die Verschreibungen von Medikamenten. "Keine Diagnosen - also eine echte 'Blackbox'", sagte Sprenger.
Experte wünscht sich Diskussions-Start in Österreich
Komplett anders sehe es in den Niederlanden aus, wo man in jede Primärversorgungseinheit bis hinunter zum einzelnen Arzt schauen könne, und aufgelistet bekomme, wie gut derjenige anhand verschiedener definierter Qualitätskriterien performe. Sogar von Österreich aus sei beispielsweise einsehbar, wie gut die Diabetes-Patienten in einer bestimmten Versorgungseinheit eingestellt sind. Sprenger: "Das ist quasi die vollkommen gläserne Versorgung."
Das sei zwar auch nicht ideal und für Österreich nicht unbedingt erstrebenswert. Es brauche aber zumindest ein Nachdenken darüber, wo sich Österreich in Zukunft zwischen den Extrempolen "Blackbox" und "totale Transparenz" einordnen soll. "Eines muss klar sein: Wir haben kein Qualitätsmonitoring im Primärbereich. Wir brauchen aber ein Minimum an Daten, um überhaupt zu verstehen, was dort passiert. Diese sehr spannende Diskussion muss jetzt irgendwann eröffnet werden", so der Wissenschafter. Im erst am 21. April in Begutachtung geschickten "Primärversorgungsgesetz 2017 - PVG 2017" komme das Wort "Qualität" allerdings fast nicht vor. Um hier einen entscheidenden Schritt weiter zu kommen, brauche es eine Veränderung in der Kultur in Bezug auf das Teilen von Informationen.
Krankheits-Management by Data?
Noch notwendiger wird das laut dem Mediziner angesichts der Zunahme chronischer Erkrankungen aufgrund der demografischen und der medizinischen Entwicklung. Chronische Krankheiten sind naturgemäß nicht heilbar, sie "müssen aber gemanagt werden. Um das zu machen, brauchen wir gute Daten", sagte Sprenger: Und zwar zum individuellen Behandlungsverlauf der Patienten und zur Gesamtzahl an z.B. Diabetikern in einer Region und deren durchschnittlichen Krankheitsverläufen.
Für Österreich gelte hier wieder: Wir wissen nicht, wer eine solche qualitätsvolle Dokumentation eines Behandlungsverlaufs überhaupt macht. Von einer Zusammenführung individueller Daten gar nicht zu sprechen. Das sei auch ein möglicher Grund, warum "bei uns mehr Leute mit chronischen Erkrankungen im Spital aufschlagen als notwendig. Bei Diabetes sind wir da teilweise Europaspitze", betonte der Forscher, der das Krankheits-Management und die ärztliche Coachingfunktion auch in der Mediziner-Ausbildung noch kaum verankert sieht: "Die Bereitschaft ist aber absolut da."