Dirk Helbing: "Die Volkswirtschaft muss neu erfunden werden"
"Wir sind an einem kritischen Punkt der Geschichte angekommen, wo sich unsere Wirtschaft und Gesellschaft fundamental transformieren", sagt der deutsche Soziologe und Komplexitätsforscher Dirk Helbing. Durch die fortschreitende Digitalisierung könnten die Umwälzungen in der Arbeitswelt so groß sein, dass die Volkswirtschaft als solche neu erfunden werden müsse.
Helbing ist Professor für Computational Social Science am Department für Geistes-, Sozial- und Politikwissenschaften sowie Mitglied des Informatikdepartments der ETH Zürich und hat im Mai dieses Jahres im Rahmen seines derzeitigen Sabbaticals den Workshop "Re-Inventing Society in the Digital Age" am Complexity Science Hub (CSH) Vienna geleitet. Ziel war es, Herausforderungen durch die Digitalisierung zu adressieren und Lösungen vorzuschlagen, aber auch um die wissenschaftliche Community und die Öffentlichkeit zu mobilisieren.
Warnung vor technokratischer Gesellschaft
Es sollte aber auch aufgezeigt werden, dass die weitere Entwicklung auf einem gesellschaftlichen Konsens aufgebaut und nicht nur "technologiegetrieben à la Silicon Valley" sein sollte, erklärte Helbing im Gespräch mit APA-Science. Vorsicht sei zum Beispiel bei Konzepten geboten, die eine zentralisierte Datensammlung mit einem Supercomputer dahinter vorschlagen, der mit künstlicher Intelligenz Muster erkennt und eine Art großes gesellschaftliches Planspiel entwirft: "Die Folge wäre, dass wir in einer Technokratie enden, wo die Daten mehr zählen als der Mensch." Menschen wären dann nur noch wie Zahnräder im Getriebe, die fremdgesteuert ihre Rollen erfüllen. Das würde letztlich auch Emotionen, Meinungen, Entscheidungen und Verhalten beeinflussen und die Frage aufwerfen, ob die Demokratie das überlebt.
Das klingt zwar zum Teil nach Science Fiction, die technischen Grundlagen dafür sieht Helbing aber bereits gegeben. So hat die chinesische Regierung einen "Citizen Score" eingeführt - derzeit auf freiwilliger Basis, bis 2020 soll das System aber für alle, die einen chinesischen Passe besitzen, obligatorisch sein. Idee dahinter ist es, die Nützlichkeit von Bürgern über ein Punktekonto zu bewerten, das für Kreditkonditionen oder die Vergabe von Jobs oder Reisevisa herangezogen wird. Von dort sei auch der Schritt zum "Predictive Policing" nicht mehr weit, welches das dystopische Szenario von Philipp K. Dick ("Minority Report") in die Realität umsetzt und Delinquenten bereits vor ihrer angeblich geplanten Straftat verhaftet.
Die Alternative zu diesen technologie- und obrigkeitshörigen Visionen wäre für Helbing eine resiliente Gesellschaft, "die in der Lage ist, mit Überraschungen zurecht zu kommen und sie in einen Vorteil zu verwandeln" und die durch "Diversität, Dezentralität und Subsidiarität" charakterisiert ist. Diversität und Nicht-Konformität könnten diesem Gedankenmodell nach Innovationen antreiben, etwa indem digitale Plattformen installiert werden, an denen sich jeder mit Ideen oder konkreten Projekten beteiligen könnte, um Lösungsansätze für Probleme wie den Klimawandel oder Ressourcenengpässe zu finden.
Eine Frage der Zeiträume
Die Frage nach den Arbeitsplätzen, die die Digitalisierung kosten oder bringen könnte, hängt für Helbing von den Zeiträumen ab, über die diskutiert wird. Jeder Arbeitsplatz bestehe aus einem Spektrum an Tätigkeiten, daher könne nicht alles einfach ersetzt werden. Klar sei, dass KI-Systeme und Roboter zunehmend Aufgaben übernehmen, die automatisiert werden können, vor allem Dinge, die nach Regeln und einem sich wiederholenden Schema ablaufen.
"Die Automatisierung wird, getrieben durch die Digitalisierung, in etwa 50 Prozent der Tätigkeiten, nicht der Arbeitsplätze, ersetzen - in einem Zeitraum von ein bis zwei Jahrzehnten", schätzt Helbing, wohlweislich in Abhängigkeit von den politischen Weichenstellungen dahinter. Wer gewinnt oder verliert, sei eine Frage der politischen Organisation und des politischen Rahmens von Wirtschaft und Gesellschaft: "Aus Sicht der Digitalisierung kann man sich vorstellen, dass die halbe Volkswirtschaft neu erfunden werden muss. Das heißt, man muss darüber nachdenken, wie die neuen Arbeitsplätze aussehen könnten."
"Gesellschaft ohne Arbeit funktioniert nicht"
Dass die Menschen weniger arbeiten, sei zwar vorstellbar, aber die meisten würden eigentlich gerne arbeiten - um einen Lebensinhalt, Struktur zu haben, Anerkennung zu finden oder einen nützlichen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten. "Eine Gesellschaft ohne Arbeit funktioniert auf absehbare Zeit nicht", ist der Soziologe sicher, wobei man nicht mehr davon ausgehen könne, dass man es mit Lebensarbeitsstellen zu tun haben werde.
Die Digitalisierung erlaube es, Produkte, Services und Businessmodelle neu zu erfinden. Was aber auch bedeute, dass es eine Neuorganisation der Wirtschaft brauche. Wenn die Digitalisierung auf der einen Seite Kräfte freisetzt, sollten diese auf der anderen Seite eingesetzt werden, um Umwelt- und Sozialprobleme zu lösen. Etwa in Form von Technologieplattformen, die auf einem freien Spiel der Ideen und Projekte basieren und an dem sich jeder beteiligen kann. All das auch, damit "nicht ein Loch im Arbeitsmarkt entsteht, was zur Folge hat, dass die Sozialkassen überfordert wären und letzten Endes das Staatswesen früher oder später zusammenbricht - oder die Alimentierung der Menschen so knapp ausfällt, dass es letzten Endes zu politischen Instabilitäten oder Revolutionen kommt."
Kombinatorische Innovation
Die Innovationen könne man per Open Innovation, Open Access, Citizen Science oder auch als Kombinationsmodelle weitertreiben. Entwickelt man einen Algorithmus, könne man ihn zwei bis drei Jahre selbst gewinnbringend nutzen und ihn dann für alle öffnen. Wenn das der Grundsatz für die gesamte Wirtschaft wäre, könnte man auch von dem profitieren, was andere vorher gemacht haben und "diese neue digitale Wirtschaft mit vereinten Kräften vorantreiben". "Das würde kombinatorische Innovation ermöglichen und das ist die einzige Möglichkeit, wie wir mit dem Silicon Valley in Europa schritthalten können", so Helbing.
Die Menschheit müsste sich gewissermaßen neu erfinden und gemeinsam Projekte für das Gemeinwohl auf die Beine stellen. Finanziert werden könnten die Projekte über "demokratischen Venture-Kapitalismus". Dafür brauche es ein neues Finanzsystem, bei dem nicht mehr Zentralbanken per quantitativer Lockerung Geld ins System pumpen, sondern wo das Geld quasi von unten kommt. Bei diesem "Crowdfunding für alle" hätte jeder Bürger eine Art Investmentprämie zur Verfügung, die er aber nicht für sich selbst verwenden dürfe, "sondern teilen muss, kann und darf". Helbing: "Letzten Endes wäre das der Weg: Zu erreichen, dass das Geld dorthin fließt, wo die besten Ideen sind und die engagiertesten Menschen, die sich für Wirtschaft, Umwelt, Gesellschaft und Hilfsbedürftige einsetzen."
Wissenschaft aus Zwängen befreien
Für einen vernünftigen Beitrag der Wissenschaft zu solchen Planspielen müsse man diese zuerst aus ihrem Alltagstrott befreien; aus dem engen Schema, "das aus dem Schreiben von Publikationen, dem Einwerben von Projektgeldern besteht, um den Impact zu maximieren". All das habe die Wissenschaft gewissermaßen gezähmt und vor den Karren der Industrie gespannt, kritisiert der Soziologe. Dadurch sei es auch für Wissenschafter fast unmöglich geworden, zehn oder zwanzig Jahre vorauszudenken und größere Entwürfe zu gestalten: "Ich bin der Meinung, dass man mit den gleichen Finanzmitteln eigentlich doppelt so viel erzielen könnte, wenn man uns nicht so viel Administration, Reporting, Antragschreiben und all das aufladen würde."
Es brauche nicht nur Innovation innerhalb des Systems, sondern eine Systeminnovation, was bedeute, das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem müsse neu erfunden werden. "Das durften wir früher nicht, wir durften nur im Rahmen des Systems nachdenken und das System nicht infrage stellen. Jetzt ist es eine Überlebensfrage geworden über das System nachzudenken und es neu zu erfinden."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science