Medizin am Puls der Technik
Vom Hightech-Magnetresonanztomografen, über Hörgeräte und Prothesen, bis zu Computerprogrammen, mit denen medizinische Abläufe gemanagt werden, reicht die Palette von all dem, was unter Medizintechnik verstanden wird. Gemeinsam haben diese denkbar verschiedenen Anwendungen, dass es ein erhebliches Maß an technologischem Know-how braucht, um solche Produkte zu entwickeln und am Markt zu etablieren. APA-Science hat sich einige Aspekte und Akteure der forschungsaktiven heimischen Medizintechnik-Szene näher angesehen.
Vor allem in den westlichen Ländern, in denen das Gesundheitswesen hoch entwickelt ist, fließen alljährlich große Summen in die Sicherstellung der medizinischen Versorgung. In Österreich sind es aktuell etwas mehr als zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Vor allem neue Möglichkeiten in Prävention, Diagnose und Therapie ließen die Aufwände für die Gesundheitssysteme über die Jahrzehnte hinweg anwachsen. Die damit einher gehenden medizinischen Fortschritte ebneten wiederum den Weg dahin, dass der Anteil der älteren Menschen an der Gesamtgesellschaft immer größer wird. Hinzu kommt, dass ältere Menschen im Schnitt auch weit umfangreicher medizinisch betreut werden müssen.
Hinter diesen Prozessen stehen oft wissenschaftliche Erkenntnisse, die in irgendeiner Form in medizintechnische Entwicklungen überführt wurden. Auch in Österreich wird in den Forschungs- und Entwicklungsabteilungen zahlreicher Unternehmen in nahezu allen denkbaren Bereichen, in denen Medizinprodukte angeboten werden, an Innovationen gefeilt. Wachstumsraten wie noch vor einigen Jahren werden im Gesundheitssystem aber seit einiger Zeit aufgrund von wachsendem Kostendruck nicht mehr verzeichnet.
25.000 Beschäftigte in Österreich
Trotzdem weist der im Auftrag des Wissenschafts- und Wirtschaftsministeriums und des Austria Wirtschaftsservice (aws) erstellte "Life Science Austria Report 2013" 435 in Österreich tätige Unternehmen im Medizintechnik-Bereich aus, die einen Gesamtumsatz von etwa 7,4 Mrd. Euro erwirtschaften und insgesamt fast 25.000 Menschen beschäftigen (Stand: 2012). Gegenüber einer ersten, methodisch etwas anders gestalteten und daher nicht eins zu eins vergleichbaren Erhebung aus dem Jahr 2010, weist der Bericht in vielen Bereichen nicht unerhebliche Steigerungen aus.
Über die gesamte Branche hinweg gesehen gibt es die meisten heimischen Firmen, die sich in irgendeiner Form und nicht zwingend vorrangig mit Medizintechnik beschäftigen, in Wien (197). In der Bundeshauptstadt werden fast drei Mrd. Euro umgesetzt. Die 55 oberösterreichischen Firmen kommen immerhin auf fast 1,85 Mrd. Euro. Die 24 Salzburger Unternehmen erzielten 825 Mio. Euro, während 59 niederösterreichische Firmen 671 Mio. Euro erwirtschafteten. Umsatzmäßig folgen die Steiermark (507 Mio.), Tirol (365), Kärnten (103), Vorarlberg (86) und das Burgenland mit neun Mio. Euro.
Entwicklung, Herstellung, Verkauf, Vertrieb
Unter Medizintechnik wird im Sinne der Studie die Summe der Aktivitäten, die mit der Entwicklung, Herstellung, dem Verkauf und dem Vertrieb medizinischer Produkte zu tun haben, zusammengefasst. Unter der Gruppe der "dedizierten Medizintechnik-Unternehmen" werden in der Analyse alle Firmen gelistet, deren Schwerpunkt auf der Herstellung oder Entwicklung solcher Produkte liegt. Österreichweit haben die Experten 124 Unternehmen identifiziert, auf die diese Beschreibung passt. Diese in allen Bereichen der Medizintechnik tätigen Firmen erwirtschafteten 2012 einen Umsatz von insgesamt 1,27 Mrd. Euro.
Bei den heimischen dedizierten Medizintechnikfirmen handelt es sich typischerweise um KMU. In den meisten Betrieben arbeiten nicht mehr als neun Personen, nur ungefähr ein Sechstel der Unternehmen beschäftigt mehr als 50 Mitarbeiter. Insgesamt sind in dem Bereich fast 5.900 großteils hochqualifizierte Personen tätig. Laut einer Studie, die das Industriewissenschaftliche Institut im Auftrag des freiwilligen Verbands der Medizinprodukte-Branche "Austromed" durchgeführt hat, betrauen innovative Medizinprodukte-Unternehmen im Schnitt etwa fünf Prozent ihrer Mitarbeiter mit Aufgaben im Bereich Forschung, Technologie und Innovation (FTI).
Der "Life Science Austria Report" weist fünf Unternehmen aus, die 2012 mehr als 100 Mio. Euro Umsatz erzielten. Zusammengenommen repräsentieren alleine diese Firmen mehr als die Hälfte des Gesamtumsatzes der heimischen Medizintechnik-Firmen. Dazu zählen die österreichischen Tochterfirmen des deutschen Gesundheitskonzerns Fresenius, die vor allem auf Operations- und Untersuchungshandschuhe spezialisierte Semperit-Tochter Sempermed, das oberösterreichische Labor- und Diagnostiktechnikunternehmen Greiner Bio-One, der Hightech-Prothesenhersteller Otto Bock Healthcare und der Tiroler Hörgeräteentwickler MED-EL.
Auszeichnungen für MED-EL
Auf nationalem und internationalem Parkett hat MED-EL unter den heimischen Firmen in den vergangenen Jahren wohl die meisten Blicke auf sich ziehen können. Mit der Entwicklung eines teilimplantierbaren Hörsystems, das den Knochen für die Vibrationsleitung nutzt und so auch schwer hörgeschädigten Menschen, bei denen der Schall nicht auf natürliche Weise an das Innenohr weitergeleitet werden kann, ein weitgehend normales Hören ermöglicht, war MED-EL heuer beim Staatspreis Innovation erfolgreich. Auch für den kürzlich vom Europäischen Patentamt (EPA) vergebenen Europäischen Erfinderpreis war die "Bonebridge" nominiert, musste sich letztlich aber dem "König der Dübel", Artur Fischer, geschlagen geben.
Das von Ingeborg Hochmair 1990 gemeinsam mit ihrem Ehemann Erwin gegründete Unternehmen beschäftigt mittlerweile alleine am Hauptsitz in Innsbruck etwa 1.000 Mitarbeiter und unterhält Niederlassungen in 28 Ländern. Im Vorjahr wurde Ingeborg Hochmair zudem mit dem Lasker-Preis für klinisch-medizinische Forschung geehrt, der höchsten medizin-wissenschaftlichen Auszeichnung der USA.
Otto Bock setzt auf F&E
Auch am Wiener Standort des deutschen Medizintechnik-Unternehmens Otto Bock wird Forschung und Entwicklung (F&E) groß geschrieben. Mehr als ein Drittel der 590 Mitarbeiter in Wien ist in dem Bereich tätig. 2012 wurden laut Unternehmensangaben rund 25 Mio. Euro für F&E aufgewendet.
Mit dem "C-Brace"-System hat das Unternehmen erst kürzlich ein hydraulisches System für Menschen mit Lähmungen in den Beinen entwickelt, das sich laut Produktbeschreibung stufenlos der Gangsituation anpasst. Beim Treppensteigen wird das Gelenk behutsam gebeugt und beim Schwingen der entsprechende Widerstand reduziert. Die rund zwei Kilo schwere, akkubetriebene Orthese war beim Wiener Innovationspreis "Mercur" siegreich und für den Staatspreis Innovation 2014 nominiert.
Software für Diabetiker
Dass man auch mit einer Smartphone-App einen internationalen Erfolg im Bereich "Medizinprodukte" landen kann, bewies in den vergangenen Jahren die junge Wiener Firma "mySugr". Für die Entwicklung von Computerprogrammen zum Monitoring des Blutzuckerspiegels und zur Unterstützung von Diabetes-Therapien gab es 2011 bei der Wiener "Startup Week" den Hauptpreis. 2013 folgte eine Auszeichnung im Rahmen des "Staatspreises Marketing" und auch in der internationalen Startup-Szene hat sich das Wiener Unternehmen einen Namen gemacht. Mittlerweile nutzen die Software fast 113.000 Diabetiker.
Trotz solcher, auch über Österreichs Grenzen hinaus sichtbarer Entwicklungserfolge und einer Steigerung der Umsätze unter den dedizierten Medizintechnik-Firmen von 74 Prozent im Vergleich mit 2010, erhöhten sich laut dem "Life Science Austria Report" die F&E-Investitionen 2012 um lediglich zwölf Prozent auf 104,2 Mio. Euro. Vor dem Hintergrund, dass sich in dem Zeitraum die Anzahl der Unternehmen erhöht hat, gingen die Ausgaben pro Firma im Schnitt sogar um mehr als zwölf Prozent zurück. "In einem schwierigen wirtschaftlichen Umfeld scheint sich die österreichische Medizintechnik mehr auf Marktdurchdringung durch mehr Investitionen in Marketing- und Verkaufsaktivitäten, als auf Investitionen in neue Produkte oder die signifikante Verbesserung bestehender Produkte zu konzentrieren", heißt es in der Studie.
Laut der "Austromed"-Studie sind insgesamt mehr als die Hälfte der befragten Firmen im FTI-Bereich tätig. Der Anteil der "FTI‐aktiven Medizinprodukte‐Unternehmen" in Österreich hat laut der Untersuchung im Vergleich zu 2007 um 12,2 Prozentpunkte zugenommen. Insgesamt etwas mehr als 14 Prozent der Firmen gaben an, ihre F&E-Ausgaben zurückzuschrauben, während fast die Hälfte angab, mehr zu investieren.
Kritik an der Zulassungspraxis
Zwischen der Entwicklungsarbeit von Medizinprodukten und der Markteinführung steht naturgemäß ein Netz an Qualitäts- und Sicherheitsprüfungen, das die Produkte auf seine Anwendbarkeit am und für den Patienten überprüft. Die EU-Richtlinien über Medizinprodukte sind jedoch in die Jahre gekommen und sollen durch Verordnungen, die den aktuellen Anforderungen entsprechen, ersetzt werden (siehe Interview mit Michael Pölzleitner vom TÜV AUSTRIA).
Die drei derzeit gültigen EU-Richtlinien stammen aus den Jahren 1990, 1993 und 1998 und sind im österreichischen Medizinproduktegesetz umgesetzt. Dabei geht es im Wesentlichen um aktive Implantate, allgemeine Medizinprodukte und In-vitro-Diagnostik. Der aktuelle Entwurf der EU-Kommission sieht vor, aus den drei Richtlinien zwei Verordnungen zu machen. Wegen heftiger Diskussionen und vielen Änderungsanträgen aus den verschiedensten Gremien dürfte sich das aber noch bis Ende 2015 ziehen.
Risiko bei Hoch-Risiko-Produkten
Claudia Wild, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Health Technology Assessment (LBI-HTA), erachtet die europäische Zulassung von Medizinprodukten (das CE-Marking bei dezentralen "Benannten Stellen"/ = Notified Bodies) als problematisch. "Insbesondere die Zulassung von sogenannten Hoch-Risiko-Produkten ist sehr kritisch zu beurteilen", betonte Wild auf Anfrage von APA-Science.
Das CE-Marking entspreche einer TÜV-Prüfung und komme auch bei Hoch-Risiko-Produkten wie Implantaten - darunter auch aktive Implantate wie Herzschrittmacher - fast ohne klinische Daten aus. Viele der in Europa zugelassenen Hoch-Risiko-Medizinprodukte würden in den USA entweder gar nicht oder erst zwei bis drei Jahre später nach intensiver Prüfung auf den Markt kommen, kritisiert Wild. Eine Verschärfung der Medizinprodukte-Zulassung in Europa sei zwar in Vorbereitung, werde aber dennoch nicht zentral passieren, wie das von Experten für Hoch-Risiko-Produkte gefordert werde. Heute wisse man weder, wo ein Produkt zugelassen wurde, noch auf Basis welcher Daten.
Druck durch Skandalfälle
"Viele Skandalfälle (wie die defekten Brustimplantate der französischen Firma PIP; Anm.) haben da aber jetzt den Druck ausgelöst, dass die Zulassung strenger und transparenter wird", so die Expertin. Der Trend gehe also in die Richtung, dass auch für Hoch-Risiko-Medizinprodukte klinische Vergleichsstudien, ebenso wie bei Arzneimitteln, für die Zulassung notwendig werden: "Das wird am Markt, insbesondere bei kleinen Anbietern etwas bewegen, klinische Forschung mit Medizinprodukten fördern und der Patientensicherheit zuträglich sein."
Im Gegensatz zur Arzneimittelforschung ist bei vielen Hoch-Risiko-Medizinprodukten eine längerfristige Nachbeobachtung notwendig. Ob eine Hüft- und Knieprothese nach drei, fünf oder 15 Jahren kaputt geht, ist sowohl für Patienten und für Kostenträger wesentlich: das findet man aber nicht sofort heraus. Also sind Register notwendig. Außerdem spielt die Lernkurve der Chirurgen/innen eine Rolle, die technische Weiterentwicklung der Produkte etc.
Unabhängige Instanz
Das 2006 gegründete LBI-HTA ist laut eigenen Angaben als "unabhängige Instanz der wissenschaftlichen Entscheidungsunterstützung im österreichischen Gesundheitswesen" seit fünf Jahren vom Gesundheitsministerium beauftragt, jene neuen Medizinprodukte, die im Spitalsleistungskatalog "abgebildet" werden sollen (einen Tarif bekommen sollen), zu evaluieren, ob in klinischen Studien bereits ein Patientennutzen erwiesen wurde.
"Viele der neuen Verfahren, die mit Medizinprodukten wie Herz-Implantaten, Bandscheiben-Implantaten, Magen-Bypass-Impantaten arbeiten, werden viel zu früh, nämlich nachdem sie an ein paar wenigen Patienten ausprobiert wurden, für die breite Anwendung vorgeschlagen", ortet Wild ein systemimmanentes Problem.
Die Rolle von HTA sei es daher, einen wissenschaftlichen Beratungsbeitrag zu leisten, ob ein Medizinprodukt noch im experimentellen Stadium (an einer Uniklinik) erprobt wird oder bereits soviel Wirksamkeit nachgewiesen ist, dass eine Aufnahme in den Spitalsleistungskatalog gerechtfertigt erscheint. Darüberhinaus könne das Institut beraten, welche Daten in klinischen Studien erhoben werden sollen.
Bei allen Segnungen durch technische Fortschritte in der Medizin werde die Früherkennung von Krankheiten mittels Hightech-Diagnostik inzwischen sehr kritisch diskutiert, weil nicht alles, was man findet jemals auffällig bzw. symptomatisch geworden wäre. "Es werden inzwischen jährliche Konferenzen zum Thema Überdiagnostik abgehalten. Und selbst der Präsident der Europäischen Radiologenverbandes sagte bei der Radiologen-Tagung (Guy Frija im März 2014 in Wien; Anm.), dass es eine 30-prozentige Überdiagnostik gibt."
Am Bedarf vorbei erfinden
Die Treiber für den Einsatz von Hightech in der Medizin sind für Wild in der Industrie und der "hoch produktiven" forschenden Ärzteschaft angesiedelt. Anders als in der Pharmaindustrie sei der Medizinproduktebereich von vielen kleinen Betrieben bestimmt. Häufig würden auch Ärzte oder Orthopäden als Erfinder in Erscheinung treten. Ein Problem sei aber, dass viel erfunden werde, was nicht gebraucht werde, was an mangelnder Kommunikation liege. "Das ist auch ein Problem der Fördergeber: Alle wollen Innovation, aber letztendlich weiß man nicht, wo genau die Anwendungsfelder sind", so Wild.
Ins selbe Horn stößt auch Nora Mack, Projektmanagerin im Gesundheitstechnologie-Cluster (siehe Gastkommentar): "In vielen Fällen wird am Endkunden vorbei entwickelt - entweder weil Bedürfnisse des Endkunden nicht ausreichend bekannt sind oder weil dieser die moderne Technik scheut und daher mit solchen Produkten gar nichts zu tun haben möchte. Gerade weil uns allen bewusst ist, wie die Alterspyramide in Zukunft aussehen wird, sollten wir hier bedarfsorientierter handeln."
Von Nikolaus Täuber und Mario Wasserfaller / APA-Science