Plastik in der Medizin - Fluch oder Segen
Von der Plastikspritze, die jährlich Millionen Menschen das Leben rettet, bis hin zu möglicherweise mit schädlichen Additiven versehenem Plastik ist Kunststoff im Gesundheitsbereich in vielen Facetten präsent. Umweltmediziner Hans-Peter Hutter der Medizinischen Universität Wien hat mit APA-Science über die Frage geredet, was Plastik für die Medizin eigentlich bedeutet: Fluch oder Segen?
Kunststoffe haben auch vor der Medizin nicht halt gemacht. Doch obwohl die Vorteile von Einweg-Plastikspritzen und gut verträglichen Implantaten nur schwer von der Hand zu weisen sind, stellt sich anhand der Plastikinseln in den Ozeanen und der wachsenden globalen Müllberge die Frage, ob eine gute medizinische Versorgung nicht auch ohne den Vielkönner aus – hauptsächlich noch - Erdöl möglich ist.
Die Frage, wo die Medizin heute ohne Plastik wäre, bereitet Hutter Kopfzerbrechen: "Ich hätte gesagt, woanders, auf einem anderen Weg, um jene Funktionen, die das Plastik derzeit abdeckt, zu erfüllen. Das wäre meiner Meinung nach möglich, aber wahrscheinlich viel mühsamer und umständlicher."
Trotzdem gibt es für Hutter zwei Gründe, die aus medizinischer Sicht gegen die massive Verwendung von Plastik sprechen: einerseits die in den Kunststoffen enthaltenen Zusätze, andererseits das Mikroplastik.
Klein, kleiner, Mikroplastik
Mikroplastik - also Kunststoff-Partikel, die kleiner als 5 Millimeter sind - entsteht auf zwei Arten. Auf der einen Seite wird es bewusst erzeugt und findet in Kosmetikprodukten wie zum Beispiel Make-Up und Zahncreme Verwendung. Auf der anderen Seite entsteht es durch den Verfall größerer Kunststoffteile, das Waschen synthetischer Textilien (wie beispielsweise von medizinischen Laborkitteln) und den Abrieb von Autoreifen. Einer Studie aus 2014 zufolge stammt mehr als die Hälfte des Mikroplastiks in den Meeren vom Abrieb von Autoreifen.
"Die Forschungslage zu Mikroplastik und deren gesundheitlichen Auswirkungen steckt noch in den Kinderschuhen", erklärt Hutter. Obwohl Plastik schon seit den 1950er-Jahren im Alltag verwendet wurde, kam das Thema Mikroplastik in der Wissenschaft erst viele Jahrzehnte später auf.
Von der Art der Aufnahme bis hin zu den möglichen Wirkungsweisen stellen sich dabei viele schwer zu beantwortende Fragen. "Es gibt verschiedene Vermutungen dazu, was die Aufnahmequellen sind, aber man weiß es nicht mit Sicherheit. Bekannt ist die orale Aufnahme. Aber wenn es um winzig kleine Teilchen im Mikrometer-Bereich und darunter geht, wird man sie wohl auch einatmen können", erläutert Hutter. Durch die unterschiedlichen Größen, Formen und Anordnungen sowie Anreicherungen mit Additiven entstünden unendlich viele mögliche Auswirkungen. Teilchen können sich beispielsweise an Zellen anlagern, aber auch aufgenommen werden und dort Entzündungsreaktionen auslösen, was schlimmsten Fall zu Krebs führen könnte. Aufgrund mangelnder Studienzahl sei es jedoch nicht möglich, eine seriöse Antwort zu geben. "Das Thema Mikroplastik ist im Anfangsstadium, das ist erst in den vergangenen Jahren aufgetaucht. Was es gibt, sind bestimmte Untersuchungen mit aquatischen Lebewesen, aber mir ist keine Studie zum Vorkommen im Menschen bekannt. Dazu wird es in den nächsten Jahren mehr geben", so Hutter.
Zusatzstoff ist nicht gleich Zusatzstoff
Additive ("Zusatzstoffe") werden Kunststoffen beigefügt, um ihnen besondere Eigenschaften zu verleihen. Der Großteil der Additive dient dabei als Weichmacher und macht den Kunststoff weniger spröde und besser formbar.
Die wohl bekanntesten Weichmacher sind die sogenannten Phthalate. Sie sind nicht fix im Kunststoff gebunden, sondern können entweichen – und dann durch die Atemwege oder mit der Nahrung aufgenommen werden. Zehn Phthalate stehen auf der Liste der besorgniserregenden Stoffe der Europäischen Chemikalienagentur. Der Einsatz einiger Phthalate ist deshalb durch verschiedene EU-Verordnungen beschränkt oder sogar verboten.
Während Weichmacher den Kunststoff weniger spröde und besser formbar machen, erhöhen Stabilisatoren die Lebensdauer, indem sie vor Verfärbung, Zersetzung oder Schädigung durch UV-Licht schützen. Als Färbemittel, als Verstärkung, oder einfach als Füllstoff zur billigeren Herstellung finden Additive vielseitige Verwendung.
Viele dieser Substanzen sind endokrin aktiv, haben also hormonelle Eigenschaften, wodurch sie den körpereigenen Hormonhaushalt verändern oder stören könnten. Von einigen Additiven wird vermutet, dass sie unfruchtbar machen, krebserregend wirken, sich auf das Nervensystem und die Gehirnentwicklung auswirken oder Krankheiten wie Diabetes auslösen.
Mehr Hygiene durch Kunststoff
Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Durch die Zugabe gewisser antimikrobieller Additive wie beispielsweise Silber-Ionen in Kunststoffen können die Hygienevorschriften in Krankenhäusern eingehalten und die Verbreitung von Keimen reduziert werden. Die Internationale Organisation für Normung stufte Silber-Additive nach der ISO 10993-5-Zertifizierung zur Prüfung auf In-vitro-Zytotoxizität als nicht zytotoxisch (Anm.: giftig für die Zelle) und somit als unbedenklich für die medizinische Verwendung ein.
Laut der 1. Novelle zur Hygiene-Verordnung 2014 der Österreichischen Ärztekammer haben Operations- und Eingriffsräume folgende Punkte zu erfüllen: "Der Boden ist antistatisch und fugenfrei, die Wände sind abwaschbar und desinfektionsmittelbeständig, die Decke staubdicht auszuführen." Durch die leichte Abwaschbarkeit von Flächen hilft Kunststoff dabei, diese Normen zu erfüllen und die Anzahl an Infektionen zu verringern.
Schöne, plastikfreie Welt?
Für Hutter lässt sich aber nicht so einfach bewerten, ob Kunststoff gut oder schlecht ist. "Es geht meiner Meinung nach weniger darum, ganz auf Plastik zu verzichten, sondern zu überlegen, wo ich es brauche und welche Art Plastik ich verwende. Die Frage ist auch nicht, wo ich verzichten kann, sondern auf welche Kunststoffe und welche Additive. Es ist insgesamt eine sehr schwierige Frage, denn es geht um die Sicherheit des Patienten auf der einen Seite, auf der anderen um den Umweltschutz. Das zu gewichten ist immer sehr schwierig. Das zentrale Anliegen der Kliniker ist allerdings die 110-prozentige Sicherheit des Patienten, und da sind Kunststoffe kaum zu umgehen."
Eine Schwarzweiß-Lösung gebe es jedenfalls nicht. "Man kann nicht sagen, dass es nur Vorteile oder Nachteile gibt. Es liegt definitiv am Blickwinkel. Ja, Kunststoffe erleichtern den Alltag; teilweise aus Bequemlichkeit, teilweise aus funktioneller Nützlichkeit. Auf der anderen Seite verursachen sie direkte und indirekte Probleme."
Durch den direkten Kontakt treten die Stoffe in den Organismus über – mit meist noch unbekannten Auswirkungen. Außerdem würden sich schwer wiedergutzumachende ökologische Probleme ergeben, die nicht direkt etwas mit der Gesundheit zu tun hätten, so Hutter, "beginnend bei dem ganzen Müll weltweit. Und nicht zuletzt – und das darf man nicht vergessen –kommt das Plastik vom Erdöl. Und wenn man sich die Erdölproduktion ansieht, hat diese enorme Nachteile für die Umwelt, von Arbeitsplatzsicherheit in diesen Ländern ganz zu schweigen. Das geht bis hin zu den Kriegen, die man um Öl führt."
Selbst bemüht sich Hutter, möglichst ohne Plastik auszukommen. "Dort, wo man kann, sollte man es machen. Auf ein Plastiksackerl kann man verzichten, da kann mir keiner was Gegenteiliges erzählen. Das ist eine reine Bequemlichkeit. Ganz ehrlich, ein Stoffsackerl dabeizuhaben, ist wirklich nicht die Welt."
Von Anna Riedler / APA-Science