Was Musik bewegt
Musik hat vermutlich schon in prähistorischer Zeit eine wichtige gesellschaftliche Rolle gespielt. Heute ist sie in unserem Alltag omnipräsent und ständig verfügbar, ob im Konzert, via Smartphone in der U-Bahn oder als Hintergrundberieselung zum "Mood-Management" im Kaufhaus. Die Frage nach Sinn, Zweck und Funktion der Musik hat auch das Interesse der Forschung hervorgerufen. Eines der größten Rätsel betrifft noch immer ihre Ursprünge.
Über den Ursprung der Musik war auch Charles Darwin auf Vermutungen angewiesen. "Da weder die Freude an dem Hervorbringen musikalischer Töne noch die Fähigkeit hierzu von dem geringsten Nutzen für den Menschen in Beziehungen zu seinen gewöhnlichen Lebensverrichtungen sind, so müssen sie unter die mysteriösesten gerechnet werden, mit welchen er versehen ist", schrieb er in "Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl", jener Schrift, in der er zum ersten Mal die Bezeichnung "Evolution" verwendete.
Das angenommene Vermögen des Urmenschen oder eines früheren Stammvaters, seine Stimme dazu zu benutzen, "echte musikalische Kadenzen hervorzubringen, das heißt also zum Singen", wurde wohl "besonders während der Werbung der beiden Geschlechter ausgeübt". Neben Vorteilen bei der Partnerwahl könnten musikalische Artikulationsfähigkeiten entwickelt worden sein, "um verschiedene Gemütsbewegungen auszudrücken, wie Liebe, Eifersucht, Triumph, und gleichfalls, um als Herausforderung für die Nebenbuhler zu dienen". Die Nachahmung musikalischer Ausrufe durch artikulierte Laute "mag daher wahrscheinlich Worten zum Ursprung gedient haben, welche verschiedene komplexe Erregungen ausdrückten", so Darwin.
Das älteste Musikinstrument der Welt
Handfestere Hinweise liefern Artefakte, die 2009 in einer Höhle auf der Schwäbischen Alb in Deutschland gefunden wurden. Eine dort entdeckte Flöte gilt mit 35.000 Jahren als ältestes Musikinstrument der Welt. Der Fund des aus den Flügelknochen eines Gänsegeiers gefertigten Instruments belegt nach Ansicht von Forschern der Universitäten Tübingen und Heidelberg, dass schon der frühzeitliche Homo sapiens Musik machte. Es sei möglich, dass die Musik den Homo sapiens beim Ausbau sozialer Netzwerke geholfen und damit ihre Ausbreitung begünstigt habe, erklärte einer der beteiligten Forscher.
"Musik ist ein Verbindungselement das ermöglicht, dass größere Gesellschaftsgruppen zusammenhalten können", sagte Nicholas Conard, Leiter des Instituts für Ur- und Frühgeschichte und Archäologie des Mittelalters an der Universität Tübingen, im Gespräch mit APA-Science. Dieser "kulturelle Klebstoff" habe für den Homo sapiens somit wohl einen evolutionären Vorteil gegenüber den Neandertalern und Denisova-Menschen ergeben, die in wesentlich kleineren, isolierteren sozialen Einheiten gelebt haben. Bisher hat man keine Belege dafür gefunden, dass die zur Blüte des Homo sapiens bereits ausgestorbenen Neandertaler auch musikalisch waren.
"Schlagartiger Beginn" vor 40.000 Jahren
"Kunst, Musik und alle damit verbundenen Dinge haben überraschenderweise fast schlagartig in einer Zeit vor fast 40.000 Jahren begonnen", so Conard, der hier einen Zusammenhang mit einer Wettbewerbssituation zwischen archaischen (Neandertaler, Denisova) und modernen Menschen (Homo sapiens) sieht. "Die archaischen Menschen waren aber nicht etwa dümmer, die hatten das einfach nicht nötig", stellt der Experte klar. Deren kleineren sozialen Einheiten kommunizierten vermutlich vor allem über Blicke, Laute und Körperkontakt.
Wenn man von Netzwerken spreche, dann komme auch ein Selektionsprozess ins Spiel. "Gesellschafts- und Kommunikationsformen, die funktionieren, werden von Generation zu Generation weitergegeben. Offensichtlich ist es so, dass Musik in der Gesellschaft gut funktioniert hat und darüber eine gemeinsame Identität entstanden ist."
Das einzig hundertprozentig für die Frühzeit der Menschheitsgeschichte belegte Musikinstrument sei nach wie vor die Flöte. Davon gibt es laut Conard mindestens vier unterschiedliche Arten, darunter auch welche aus Schwanenknochen oder Elfenbein. Obwohl man als Forschungsobjekte faktisch nur Instrumente habe und es naturgemäß keine Aufzeichnungen zu Gesangseinlagen aus dieser Zeit gibt, steht für den Wissenschafter fest: "Wie man gesungen hat, wird man nie wissen. Aber ich halte es für völlig undenkbar, dass man Musik spielt und nicht singt und nicht tanzt."
Erste Aufzeichnungen
Während die deutschen Forscher die urzeitlichen Flöten rekonstruierten, um ein Gefühl dafür zu bekommen wie sie geklungen haben mögen, dauerte es bis zur nachvollziehbaren Aufzeichnung von Musik bis ins Mittelalter. "Um 1.000 n. Chr. ist die linienbasierte Notenschrift erfunden worden, und erst seit damals wissen wir ungefähr, wie Musik geklungen hat", erklärte Alfred Smudits, Leiter des Instituts für Musiksoziologie an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw), gegenüber APA-Science. "Alles davor sind Mutmaßungen, wo man mit großem Risiko versucht hat, das zu deuten."
Erste konkrete Niederschriften gab es etwa in Form sogenannter Neumen - Zeichen, Figuren und Symbole, die meist über dem Text stehen -, die um das 9. Jahrhundert n. Chr. dazu dienten, auf recht simple Weise die musikalische Notation gregorianischer Choräle festzuhalten und zu tradieren. Eines der frühesten Beispiele für eine beabsichtigte Wirkung von Musik in einem bestimmten Bedeutungshorizont verortet Smudits daher auch bei den Kirchengesängen: "Mit der Akustik der Kathedralen klingt ein Chor so, dass man nicht weiß wo diejenigen sind, die singen - nach dem Motto: Gott ist überall und hört alles." So konnten Inhalte der christlichen Lehre über die Elemente des Rituals und des Kirchenraums selbst vermittelt werden.
Zwischen geistig und weltlich
"Im späten Mittelalter gab es dann die Kontrafaktur, dass geistige Musik auch weltliche sein konnte und umgekehrt. Was ein Kirchenlied war, wurde dann auch als weltlicher 'Schlager' gesungen, als Volksmusikstück. Das Changieren zwischen politischen Konnotationen ist gar nicht so selten", so der Soziologe. Musik wurde im weiteren Lauf der Geschichte immer wieder bewusst auch politisch "instrumentalisiert", etwa in Form von Fanfaren als eine Art "Signation" für Fürstenhöfe, Marschmusik für das Militär oder Hymnen für Nationalstaaten.
Eine der in der Musiksoziologie und -wissenschaft zentrale und ungelöste Frage sei jene der Homologie, also "ob die Musik wie sie klingt auch eindeutig eine politische Haltung symbolisieren kann". Ein Paradebeispiel dafür ist der Anfang der 1980er-Jahre etablierte "Oi!"-Musikstil, ein musikalisch schwer einzugrenzendes Genre zwischen Punk, Ska und Reggae. Ursprünglich politisch eher links geprägt, wurde Oi! zunehmend auch von rechtsextremen Gruppierungen für sich vereinnahmt. "Da hat die Popmusik die Unschuld verloren bzw. das Rebellische war plötzlich nicht mehr nur auf der 'guten' Seite", so Smudits: "Diese Konnotation zwischen der Musik, wie sie klingt, und einer politischen Botschaft ist ganz offensichtlich eine, die erst konstruiert wird."
"Ästhetik von unten"
Wissenschaftlich wurde die Musikrezeption und -wirkung erst mit dem Aufkommen erster musikpsychologischer Untersuchungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter die Lupe genommen. "Jenseits des philosophischen Nachdenkens wurde eine 'Ästhetik von unten' entwickelt", so Smudits. So gingen etwa Gustav Theodor Fechner (1876) bzw. auch schon Hermann Helmholtz (1863) der Frage nach, welche Reize als angenehm oder nicht angenehm empfunden werden. Was als angenehm empfunden wird, ist demnach nichts Starres, sondern ändert sich im Lauf einer Biografie, so erste - "aus heutiger Sicht unter katastrophalen methodischen Umständen" - gewonnene Erkenntnisse (siehe auch: "Warum wir Wohlklang hören: In der Natur immer Teil der Kommunikation").
Diese Untersuchungen seien aber insofern bemerkenswert, als dass sie einen ersten Schritt darstellten, Musik tatsächlich als Kunst zu begreifen - was übrigens fast nur in der abendländischen Kultur geschehen sei. "Dass Musik um ihrer selbst gesehen wird, als Kunst, setzt vor allem mit Beethoven ein - als Prototypen des genialen, autonomen Künstlers. Bis dahin war Musik auch immer mit einer anderen Funktion verbunden. Vor allem die aristokratische Musikkultur war sehr auf Zerstreuung hin orientiert."
Klavier öffnet "Massenmarkt"
Erstmals zumindest in die Nähe eines Massenphänomens rückte die Musik laut Smudits mit dem Klavier "als Orchesterersatz" für die Haushalte und der Lithographie, die den Notendruck revolutioniert hat: "Da hatte man plötzlich hochwertige Notendrucke in Massenauflage zur Verfügung." Je stärker Musik in der Masse ankam, desto mehr wurde sie einerseits zur Identitätsstiftung als auch zur Distinktion zwischen Subkulturen und sozialen Klassen verwendet.
Ein Hauptproponent dieser These ist der französische Soziologe und Sozialphilosoph Pierre Bourdieu, der eine mit dem Aufstieg des Bürgertums verbundene Unterscheidung zwischen einem "sublimen" und einem "primitiven" Musikgeschmack beschreibt - und diese Hierarchie als ideologisches Konstrukt zu entlarven versucht. Am Beispiel alltäglicher Geschmacksurteile veranschauliche Bourdieu, "wie insbesondere die Vorliebe für klassische Musik den privilegierten Gesellschaftsmitgliedern dazu dient, soziale Superiorität zu demonstrieren", heißt es in dem von Smudits herausgegebenen Sammelband "Musik und Gesellschaft" (Bd. 30). "Ein ziemlich banaler Zusammenhang, nur seine Erklärung war dann sehr revolutionär: die Herrschenden definieren immer etwas als das Legitime, Etablierte, das die anderen noch nicht verstehen. Daher können die sich immer abgrenzen", so Smudits.
"Die Arena der symbolischen Kämpfe sind Geschmacksäußerungen - ein Geschmacksurteil sagt nichts über das Objekt sondern über das Subjekt, das das Urteil abgibt", erklärt der Institutsleiter. Das sei die soziologische Erklärung, "warum uns etwas gefällt oder nicht gefällt - weil wir zu einer bestimmten Gruppe dazugehören wollen und uns auch von anderen Gruppen distinguieren wollen." Bourdieu habe in seiner "Sozioanalyse" in Analogie zur Psychoanalyse unbewusste Strukturen aufgedeckt, "die sehr unangenehm für die sind, die diese Strukturen leben".
Verlust der identitätsstiftenden Funktion
Während Bourdieu musikalische Milieus über die Distinktion verschiedener Gruppen beschrieb, nahmen sich in den 1960er Jahren die Cultural Studies gewissermaßen des gleichen Themas an - nur von der anderen Seite der Medaille her. So stellte man zunehmend fest, dass Musik für Subkulturen ein ganz zentrales identitätsstiftendes Element darstellt. "Heute besteht die Vermutung, dass das zurückgeht und Musik nicht mehr diese identitätsstiftende Funktion für Szenen hat, sondern es sozusagen mehr 'Szenen-Hopper' gibt", sagt Smudits.
Jüngere kultursoziologische Untersuchungen in den USA hätten etwa ergeben, dass dort die "Omnivores" - musikalische "Allesfresser" - auf dem Vormarsch sind. Die zentrale These laute, dass sich gesellschaftliche Gruppen nicht so sehr dadurch unterscheiden, an welchen, sondern an wie vielen unterschiedlichen Genres sie Gefallen finden. Eine Entwicklung, die hierzulande nicht in dem Ausmaß bestätigt werden konnte. "Es gibt schon Querbeethörer, aber so richtig den offensiv toleranten Musikgeschmack gibt es bei uns nicht."
Abwaschen mit Beethoven
Ob Musik Rezipienten in eine vorgefasste Richtung lenken oder beeinflussen kann - politisch-gesellschaftlich wie in der Werbung oder zum "Mood-Management" beim Einkaufen (siehe auch "Marken und Erlebniswelten: Warum sich Metallica nicht als Fahrstuhl-Musik eignet") - hängt für den Experten letztlich vom Bezugsrahmen ab, in dem sie konsumiert wird: "Ich denke, es ist immer der Kontext, der Musik Macht verleiht. Wenn ich in einem sehr empathischen und begeisternden Zusammenhang Beethovens Neunte höre, dann kann sich bei mir das Gefühl einer tiefen inneren Ergriffenheit einstellen - beim Geschirrabwaschen kann es mir dagegen 'wurscht' sein."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science
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