Von den Anfängen der Musiktherapie in Wiens "Irrenanstalten"
Ein aktuelles, vom Wissenschaftsfonds FWF gefördertes Forschungsprojekt untersucht die Bedeutung von Musik in Medizin und psychiatrischen Einrichtungen in Wien im ausgehenden 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Projektleiterin Andrea Korenjak vom Institut für kunst- und musikhistorische Forschung an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) erzählte APA-Science, worum es dabei geht.
Wie entstand das Projekt "Musik, Medizin und Psychiatrie in Wien (ca. 1780-1850)" und worum geht es?
Korenjak: Ich habe Musikwissenschaft, Psychologie und Querflöte studiert und war immer fasziniert von der Verbindung dieser Disziplinen. Ganz allgemein gesprochen geht es in meinem Projekt um die Anfänge des Einsatzes von Musik in Wiener psychiatrischen Anstalten und in den sogenannten k. k. Irrenanstalten des 19. Jahrhunderts.
Im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert wurden in Zentraleuropa erste konkrete Versuche unternommen, Musik in psychiatrischen Anstalten zu integrieren. Wurden im musikhistorischen Diskurs Ausführungen über die "Mächtigkeit" und "Heilkraft der Musik" vielfach anhand von Mythen, Legenden und philosophischen Überlegungen besprochen, stehen diese um 1800 auf dem Prüfstand: Erste klinische Versuche, die Musik ganz konkret in den psychiatrischen Alltag der sogenannten "Irren-Anstalten" zu integrieren, fallen äußerst kontrovers aus - ärztliche Berichte reichen von der überzeugten Anwendung bis zur enttäuschten Ablehnung.
Diese unterschiedlichen Erfahrungen führten zu neuen Überlegungen zur Wirkung der Musik auf den Menschen, die sich nicht nur am musikphilosophischen Diskurs, sondern ebenso an der Empirie der klinischen Praxis orientieren. Die klinische Erfahrung zieht zunehmend "Musikpräferenzen" in Erwägung, zudem die "musikalische Vorbildung" der Patienten, die Herkunft und Nationalität des Patienten, oder die musikalische Ausbildung des Arztes. Diese Tendenz zu neuen Überlegungen zur individuellen Musikrezeption der Patienten stellt einen wichtigen Paradigmenwechsel im 19. Jahrhundert dar.
Wann entstand das Konzept von Musiktherapie?
Korenjak: Im älteren historischen Kontext gibt es keinen "Begründer" der Musiktherapie. Schriftliche Überlegungen, wie Musik auf den Körper und die Seele des Menschen wirkt, reichen in die griechische Antike zurück. In Hinblick auf den Einsatz von Musik in der Psychiatrie in Wien war Bruno Goergen (1777-1842) federführend. Der ursprünglich aus Trier stammende Goergen promovierte in Wien und gründete eine eigene Privatheilanstalt für "Gemütskranke" in Gumpendorf, die er später nach Oberdöbling verlegte. Er hat Musik eingesetzt, um bei seinen Patienten eine "Gemütsruhe" wiederherzustellen. Für ihn war Musik vor allem eine Beschäftigung, die die Kranken zudem von krankhaften Ideen ablenken und sie zerstreuen sollte. Interessant ist dabei, dass er dabei bereits auf ein aktives Musizieren setzte. Um die musikalischen Fähigkeiten zu fördern, wurden nicht nur Instrumente zur Verfügung gestellt, sondern auch Musiklehrer angestellt. Goergen hat Patienten dazu animiert, gemeinsam zu musizieren und organisierte auch Anstaltskonzerte, zu denen Gäste geladen waren.
Wie sah es in anderen europäischen Ländern aus?
Korenjak: Im Vergleich zu Frankreich, Deutschland oder England hat die Musik in den so bezeichneten "Irrenanstalten" in Wien vergleichsweise spät Einzug gehalten. Eine Vorreiterrolle in Hinblick auf Psychiatriereformen und den Einsatz der Musik bei psychiatrischen Patienten hatten französische Ärzte. Die Pariser Salpêtrière, eine Anstalt für weibliche "Geisteskranke", besuchte auch Franz Liszt gemeinsam mit Giacomo Meyerbeer und dem damals berühmten Sänger und Gesangslehrer Jean-Antoine-Just Géraldy. Sie zeigten sich von der musikalischen Ausbildung in der Psychiatrie und dem gesanglichen Können der Anstaltsbewohnerinnen beeindruckt. Umgekehrt waren auch diese von den Darbietungen der berühmten Besucher sehr bewegt.
Was ist das Besondere an der Wiener Musiktherapie von 1958?
Korenjak: Alfred Schmölz, einem Pionier der modernen Wiener Musiktherapie, ging es darum, die Kreativität der Patienten bewusst zu fördern, um ihr Ausdruckspotenzial zu aktivieren. Dabei legte Schmölz besonderen Wert darauf, dass Patienten ihre Gestaltungsmöglichkeiten auf leicht spielbaren Instrumenten und mit einfachen musikalischen Strukturen erleben können. Musik wird vornehmlich als Ausdrucksmittel einer "nonverbalen Kommunikation" zwischen Patient und Therapeut betrachtet. Das Wesen ist der therapeutische Prozess und die therapeutische Beziehung, die durch die Musik ermöglicht wird. Die Musik soll eine Kontaktaufnahme zwischen Patient und Therapeut unterstützen und das Beziehungsgeschehen gestaltbar und erfahrbar werden lassen. Die musiktherapeutische Beziehung ist dabei prozessorientiert.
Hat sich am grundlegenden Verständnis von Musiktherapie und an der Wirkung seit ihren Anfängen aus Sicht der Forschung etwas geändert?
Korenjak: Blickt man auf die Geschichte zurück, so kann man ganz unterschiedliche Deutungsansätze erkennen. Auffallend ist im historischen Diskurs, dass bis ins 19. Jahrhundert hinein der Musik an sich eine heilende Wirkung zugesprochen wird, nicht dem therapeutischen Prozess. In Goergens Ansatz zeigt sich bereits eine Tendenz, Patienten aktiv zum Musizieren anzuregen. Im Gegensatz zur modernen aktiven Musiktherapie, die sich in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert, musizieren dabei aber nicht Therapeut und Patient gemeinsam, sondern man setzte vielmehr auf ein gemeinschaftliches Musizieren von Patienten im Sinne einer Beschäftigung, Erheiterung und Zerstreuung. Vielfach wurde der therapeutische Erfolg durch die Musik in einer Ablenkung gesehen - zum Beispiel, in einer Ablenkung vom Hören innerer Stimmen - etwa bei Schizophrenie - oder melancholischen Gedanken wie bei einer Depression.
Mittlerweile findet Musikwirkungsforschung in den unterschiedlichsten Gebieten statt, so etwa bei Frühgeborenen. Gab es eine Ahnung, dass Musik nicht nur auf die Psyche, sondern auch auf den Körper wirken könnte, bereits früher?
Korenjak: Vor 200 Jahren argumentierte man beispielsweise damit, dass die Musik über den Körper auf die Seele wirke. Beobachtungen aus der Akustik, wie das Phänomen der Resonanz, wurden auf das Leib-Seele-Verhältnis übertragen. Dabei stellte man sich die Nerven des Menschen wie die Saiten eines Instrumentes vor. Wie die Saite eines Instrumentes ohne Zutun mitschwingt, wenn die Saite auf einem anderen Instrument angeschlagen wird, so glaubte man, dass die Musik auch die Nerven im menschlichen Körper mitschwingen oder "erzittern" lassen würde. Man glaubte, dass die Nerven die Schwingungen der Musik der Seele oder dem Gehirn mitteilten.
Andrea Korenjak hat vor kurzem ein Forschungsjahr am Department of Music an der Harvard University beendet. Neben ihrer Tätigkeit an der ÖAW arbeitet sie auch als Gastforscherin am "Centre for the History of the Emotions" der Queen Mary University in London.
Von Sylvia Maier-Kubala / APA-Science