Mehrdimensionale Wirkung: Musik als Medizin
Mit der Universität für Musik und darstellende Kunst (mdw) besitzt Österreich die älteste europäische Ausbildungsstätte für angehende Musiktherapeuten. Seit beinahe 60 Jahren - seit 1958/59 - wird die Thematik vermittelt. Daneben existiert seit 1984 der Österreichische Berufsverband für MusiktherapeutInnen (ÖBM). Als Bindeglied zwischen Uni und Berufsverband entstand 1997 die Wiener Schule der Musiktherapie (WIM), die ihren Schwerpunkt in der Fort- und Weiterbildung sieht.
Doch auch in der Forschung ist Österreich zunehmend aktiv, als Meilenstein gilt das noch junge Josef Ressel (JR)-Zentrum an der IMC Fachhochschule (FH ) Krems mit Fokus auf personalisierte Musiktherapie. Lehrgänge bieten neben der FH Krems auch die Grazer Kunstuniversität in Kooperation mit der Karl-Franzens-Universität und der Medizinischen Universität Graz an.
Schub Richtung Wissenschaft
"In den vergangenen 20, 30 Jahren hat sich die Forschung in diesem Bereich extrem intensiviert", erzählt Thomas Stegemann, Leiter der Abteilung für Musiktherapie an der mdw. Es habe zuletzt ein großer Schub Richtung Wissenschaft stattgefunden. Davon zeuge etwa das seit drei Jahren an der Musikuni angebotene Ph.D-Studium für Musiktherapie. Aber auch das 2009 in Kraft getretene Berufsgesetz, das Musiktherapie als Gesundheitsberuf anerkennt, habe viel zur Weiterentwicklung beigetragen. Österreich spiele im Feld der Musiktherapieforschung durchaus eine Rolle. So hat etwa der Weltkongress für Musiktherapie vor zwei Jahren mit 1.000 Teilnehmern in Krems stattgefunden und erst diesen Sommer war die europäische Musiktherapie-Konferenz zu Gast in Wien.
Die Grenzen ihrer ursprünglichen Anwendungs- bzw. Forschungsfelder - der Psychiatrie bzw. Jugendpsychiatrie (Von den Anfängen der Musiktherapie in Wiens "Irrenanstalten") - hat die Musiktherapie mittlerweile gesprengt. "Es geht weit darüber hinaus: Forschung findet mit unterschiedlichsten Zielgruppen statt. Etwa im Bereich Neonatologie - hierzu läuft beispielsweise ein Projekt gemeinsam mit dem AKH." Untersucht werden darin die Auswirkungen von früher stationärer musiktherapeutischer Begleitung auf den kindlichen Allgemeinzustand sowie die Eltern-Kind-Bindung, aber auch, ob und wie sich musiktherapeutische Interventionen auf die psychologische und neurologische Entwicklung der Frühgeborenen auswirken. "Dieses Feld ist wissenschaftlich relativ gut untersucht", erläutert Stegemann, ausgebildeter Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Auch bei Patienten mit Autismus und Demenz gebe es bereits viele Erkenntnisse. "Geradezu einen Boom erleben wir derzeit im Bereich Hospiz- bzw. Palliativmedizin. Vereinfacht kann man sagen - Musiktherapie ist besonders dort interessant, wo Menschen noch nicht sprechen können oder die Sprache verloren haben."
Musiktherapie wirkt mehrdimensional
Am AKH findet Musiktherapie in der Jugendpsychiatrie Anwendung, oder auch in der Arbeit mit Geflüchteten. Ebenso läuft ein Projekt mit dem Integrationshaus. In Verbindung mit dem AKH will auch die Musikuniversität neurobiologische Vorgänge stärker untersuchen und die Musikwirkungsforschung vorantreiben. Denn Fakt ist: warum Musik den Menschen positiv beeinflusst, kann nicht eindeutig beantwortet werden. "Sie wirkt mehrdimensional: zum einen über die Beziehungsarbeit. Musik ist ein Mittel, das den Austausch zwischen Therapeut und Patient ermöglicht oder verstärkt", erklärt Stegemann. "Musik kann eine entspannende Funktion haben - das lässt sich explizit oder implizit nutzen - und so psychotherapeutische Prozesse erleichtern. Wenn man etwa mit Jugendlichen gemeinsam ihre Musik hört, schafft man etwas Verbindendes." Eine Studie habe gezeigt, dass beim gemeinsamen Singen das Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet und somit soziale Kohäsion - Vertrauen, gemeinsames Handeln, soziale Normen, Heimatgefühl, Zufriedenheit - erreicht werde.
Wirkt auf Sprachzentrum im Gehirn
Zum anderen lasse sich im Rahmen der Musiktherapie Selbstwirksamkeit erleben. "So hat beispielsweise eine kleine Patientin mit einer Angststörung im Musikzimmer ihre Ängste in echte, laute 'Gruselmusik' übertragen, sie hat dort alles an Instrumenten genutzt, was ging. Bei ihr wirkte die Musiktherapie, weil sie sich ihren Ängsten nicht mehr ausgeliefert fühlte und sich dieser 'Angstlust' auch hingeben konnte", erklärt der Ausbildungsleiter. "Selber aktiv zu werden aktiviert die Belohnungsreize im Gehirn, besonders die Wiener Schule der Musiktherapie betont diesen Aspekt", erklärt Stegemann.
Musik wirkt auch auf das motorische Sprachzentrum des Gehirns, das Broca-Areal. Es ist verantwortlich für die Sprachproduktion, ist aber auch bei der Sprachwahrnehmung beteiligt. Fällt das Broca-Zentrum aus, geht die Sprechfähigkeit verloren, obwohl der Sprechapparat intakt ist. "Musiktherapie kann der Neurobiologie hier Wege zur Behandlung eröffnen", betont der Forscher.
Interdisziplinäre Forschung zu personalisierter Musiktherapie
Als Meilenstein im Bereich der Musiktherapie-Forschung bezeichnet Stegemann das Ende 2016 gegründete Josef Ressel (JR)-Zentrum an der FH Krems. Hier forscht ein Team unter der Leitung von Gerhard Tucek an wissenschaftlichen Grundlagen für eine personalisierte (beziehungsorientierte) Musiktherapie in bestimmten Feldern der neurologischen Rehabilitation. An der FH sei Musiktherapie seit 2009 etabliert und stark forschungsorientiert. "Ab 2017 wird in Zusammenarbeit mit einer indischen Medizinuniversität auch die Möglichkeit eines PhD-Studiums geschaffen", erzählt Tucek, der auch das Institut für Therapiewissenschaften am Department of Health Sciences der FH leitet.
Mit dem JR-Zentrum sei die Voraussetzung geschaffen, Forschung auf hohem Niveau systematisch weiterzuführen. "Wir beschäftigen uns dabei im Rahmen der Musiktherapie exemplarisch mit Fragen im Zusammenhang mit therapeutischer Beziehungsgestaltung, die auch für andere Gesundheitsberufe bedeutsam sind", erklärt der Forscher. Entwickelt werden sollen neue wissenschaftliche Messverfahren und Modelle, mit deren Hilfe individuell auf den Patienten abgestimmte Therapiezeiträume und passende -zeitpunkte festgestellt werden können.
Denn zwischen besseren Therapieergebnissen und den passenden Zeitpunkten gibt es einen Zusammenhang, so die Idee des interdisziplinären Forscherteams. So soll Tucek zufolge unter anderem bestimmt werden, wie viel Zeit Patienten zwischen zwei Therapien benötigen, ehe sie in der Lage sind, einen nächsten therapeutischen Impuls aufzunehmen. "Auch für Therapeuten stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen sie sich bestmöglich auf eine nächste Therapieeinheit einlassen können", erläutert der Wissenschafter.
Empathische Fähigkeiten gezielt verstärken
Ein zweiter Forschungsschwerpunkt liege auf der Frage, wie Studierende und Therapeuten ihre Empathiefähigkeit vertiefen können, um mit ihren Patienten besser in Beziehung zu treten. So werden nach Stimulation beispielsweise die Oxytocin-, Cortisonspiegel sowie die Herzfrequenzvariabilität gemessen und psychometrische Tests - etwa mit Hilfe Elektroenzephalogrammen (EEG) - durchgeführt. "Daraus lassen sich Unterschiede zwischen einzelnen Personen herauslesen und ihre Trainingsfortschritte dokumentieren", erläutert der Forscher.
Ziel soll sein, reproduzierbare Abläufe zur Erkennung der optimalen Zeitfenster zu entwickeln. Innerhalb dieser Zeitfenster sollen therapeutisch bedeutsame Momente, sogenannte "Begegnungsmomente", im musiktherapeutischen Prozess identifiziert werden. "Ab dem dritten Jahr werden unsere Erkenntnisse in die klinische Praxis übertragen", meint der Kultur‐ und Sozialanthropologe. Den Begriff "Personalisierung" wolle man dabei um eine sozialwissenschaftliche Perspektive erweitern. Indem der einzelne Patient stärker in seiner Vielschichtigkeit wahrgenommen werde, könne "ein stärker personenzentrierter Zugang zu dem Kranken etabliert werden", so der Musiktherapeut.
Das JR-Zentrum sei das erste seiner Art im Gesundheitssektor. "Damit soll auch ein Schritt in Richtung innovativer und zukunftsorientierter Gesundheitsforschung vollzogen werden", betont Tucek. In den ersten beiden Jahren gehe es darum, die zeitliche Kombination unterschiedlicher wissenschaftlich-methodischer Zugänge - wie Videographie, Elektrokardiogramm (EKG), EEG usw. - nun erst einmal zu entwickeln. "Eine Besonderheit unseres Zentrums ist, dass wir nicht Versuchspersonen in experimentelle Laborsettings bringen, sondern mit Patienten - in unserem Fall Patienten der Neurologischen Rehabilitation Phase C - unter realen Bedingungen. Wir entwickeln gleichsam ein mobiles Labor", erläutert der Experte.