Ethikfragen bremsen Forscherdrang nicht
Mit Künstlicher Intelligenz (KI) in den Bereichen Biomedical Engineering und Smart Energy beschäftigt sich Rosemarie Velik. Die erst im Jänner zur FEMtech-Expertin des Monats gekürte Technikerin ist Senior Researcher an der CTR Carinthian Tech Research AG in Villach. Sie setzt große Hoffnungen auf Fortschritte in der Gehirnforschung und der damit verbundenen "Brain-Like Artificial Intelligence" und glaubt nicht, dass moralische Bedenken einen Wissenschafter aufhalten.
Im Bereich "Smart Energy" setzt die Forscherin Methoden der KI derzeit dazu ein, ein optimiertes Energiemanagement in den Strom- bzw. Wärmenetzen der Zukunft zu erzielen. Der Trend geht weg von der zentralen Energieerzeugung in großen Kraftwerken hin zur verteilten Stromerzeugung in Kleinanlagen, etwa in Form einer Photovoltaikanlage am eigenen Dach. "Daher werden Speichertechnologien, die Einführung variabler Stromtarife und Stromhandel zunehmend interessant, was die Entwicklung neuer, effizienterer Energiemanagement-Systeme, basierend auf KI-Optimisierungsmethoden, erforderlich macht", erklärt sie.
Im Gebiet "Biomedical Engineering" hat Velik die Künstliche Intelligenz zum einen zur Ansteuerung von Neuro- und Roboterprothesen eingesetzt. "Davon profitieren Personen nach Schlaganfall, Querschnittslähmung oder Amputation", erläutert die Elektrotechnikerin. Ein weiterer Schwerpunkt lag auf dem Studium des menschlichen Wahrnehmungssystems mit dem Zweck, die hocheffizienten Sensordaten-Verarbeitungsmechanismen des Gehirns für technische Systeme nutzbar zu machen. "Angewendet wurde dies unter anderem im Bereich 'Ambient Assisted Living' zum Aktivitätsmonitoring von älteren Personen, um ihnen so ein möglichst langes selbstständiges und sicheres Leben in ihrer eigenen Wohnung zu ermöglichen. Auch im Bereich der Bio-Signalverarbeitung habe ich KI-Methoden über viele Jahre hinweg eingesetzt. Dies ging von Anwendungen zur Ganganalyse von Parkinsonpatienten über die Auswertung von EMG- und EEG-Signalen zur Prothesenkontrolle bis hin zur Pulswellenanalyse gemäß Modellen der Traditionellen Chinesischen Medizin", führt die Forscherin aus.
KI: Kein homogenes Forschungsfeld
Die Grenzen zwischen den einzelnen Gebieten der Künstlichen Intelligenz verschwimmen oft, meint Velik. "Das Feld ist stark heterogen, es gibt eine Vielzahl von Sub-Disziplinen mit verschiedenen Schwerpunkten, Methodologien und Zielen." Die bekanntesten davon sind ihr zufolge "Applied Artifical Intelligence (AI)", "Artificial General Intelligence", "Embodied AI", "Bio-Inspired AI" und seit kurzem auch "Brain-Like AI".
Am meisten passiert heute im Bereich der "Applied AI", welcher kurz- und mittelfristig auch sicher die größte wirtschaftliche Bedeutung habe, ist Velik überzeugt. "Hier werden auf Mathematik und Algorithmik basierende Modelle zur Lösung sehr konkreter und inhaltlich abgegrenzter Aufgaben genutzt: da geht es etwa um Schachspiel-Computer, Internet-Suchmaschinen, Spracherkennungssoftware, Routenplaner oder medizinische Diagnosesysteme", so die Forscherin.
Bei "Artificial General Intelligence" - der Begriff ist Velik zufolge nicht eindeutig definiert - gehe es um das Ziel, Systeme zu entwickeln, die dem Facettenreichtum menschlicher Intelligenz gleichkommen oder sogar darüber hinausgehen. Bei der "Embodied Artificial Intelligence" wird der Grundsatz vertreten, dass für die Entwicklung von natürlicher Intelligenz ein physiologischer Körper notwendig ist, über den das Individuum mit der Welt in Interaktion treten kann (SIEHE HINTERGRUND). "Dementsprechend braucht auch künstliche Intelligenz einen Körper. Diese Richtung ist stark verknüpft mit der Entwicklung autonomer Agenten und Robotersysteme", erklärt sie.
Die Biologie zum Vorbild nimmt die "Bio-Inspired Artificial Intelligence": In diesem Gebiet entstehende Ansätze kommen unter anderem bei genetischen Algorithmen, Schwarmtheorie oder auch Neuronalen Netzen zum Tragen. Großes Potenzial attestiert Velik einer Sonderform der "Bio-Inspired Artificial Intelligence", der sogenannten "Brain-Like Artificial Intelligence". "Dabei werden die Organisation und Informationsverarbeitungsmechanismen des Gehirns als Vorbild für die Entwicklung intelligenter technischer Systeme herangezogen", so die FEMtech-Expertin. Mit wachsenden Erkenntnissen im Bereich der Gehirnforschung habe dieses Gebiet in den letzten Jahren zunehmende Bedeutung erlangt.
Menschliche Intelligenz: Paradigmenwechsel notwendig
"Der Wunsch, ein intelligentes, denkendes und lernendes Wesen zu erschaffen, ohne dabei auf die klassischen biologischen Reproduktionsmechanismen zurückzugreifen, besteht wahrscheinlich schon seit Menschengedenken", sagt Velik. Bereits in der griechischen Mythologie wird über den lahmen Hephaestus berichtet, der zwei goldene Roboter konstruierte, die ihm bei der Fortbewegung helfen sollten. "Es wäre also überraschend, wenn ein ambitionierter Forschergeist plötzlich von dieser Idee Abstand nehmen würde, nur weil sich deren Realisierung als schwieriger denn erwartet erwiesen hat", ist die Forscherin überzeugt. Mit den klassischen Methoden der Künstlichen Intelligenz lasse sich dieses Ziel allerdings nicht erreichen, meint sie. "Um hier signifikante Fortschritte zu machen, ist meiner Meinung nach ein Paradigmenwechsel in der KI-Forschung notwendig. Interessante erste Ansätze dazu gibt es bereits."
Wie man diesem Heiligen Gral der KI-Forschung näher kommen kann, darüber scheiden sich die Geister, so Velik. Aus ihrer Sicht birgt die 'Brain-Like Artificial Intelligence' dafür das größte Potenzial. "Die letzten 60 Jahre KI-Forschung haben gezeigt, dass die Natur dem Menschen in der Erschaffung von Intelligenz noch immer haushoch überlegen ist. Es wäre also ignorant, für die Entwicklung menschenähnlicher Intelligenz die Entschlüsselung und das Nachempfindung der Informationsverarbeitungsmechanismen des Gehirns außer Acht zu lassen", stellt sie fest. Dafür seien natürlich interdisziplinäre Bemühungen seitens der technischen Wissenschaften sowie der Gehirnforschung notwendig.
Teilweise wurde hier bereits begonnen, Themen anzugehen. "Unter anderem betrifft das die Emulation des menschlichen Wahrnehmungssystems und der Mechanismen, die hinter der menschlichen Entscheidungsfindung stehen. In den letzten Jahren sind wir auch mehr und mehr zu der Erkenntnis gekommen, dass Emotionen und Triebe extrem wichtig für intelligentes Verhalten sind", erklärt sie. In welche Richtung die KI-Forschung gehen wird, sieht Velik von äußeren Bedingungen abhängig: "Die Forschung lebt von Fördergeldern. Die Themen der Förderprogramme werden also sicher die zukünftige Entwicklung stark mit beeinflussen."
Ethische Grenzen: Nicht alles geht
Velik, die bisher nur an der Entwicklung von Arm- und Beinprothesen von motorisch beeinträchtigten Personen gearbeitet hat, findet den Gedanken einer "kognitiven Prothese" - auch für gesunde Menschen - "natürlich interessant, wenn auch aus ethischer Sicht nicht ganz unproblematisch", gibt sie zu bedenken. "Überdurchschnittliche Intelligenz wäre nicht länger ein Geschenk der Natur, sondern käuflich erwerbbar für jene, die sich dies finanziell leisten können", sagt sie. Auch würde damit ein aktives und direktes Eingreifen in den menschlichen Geist ermöglicht. "Man stelle sich vor, was passiert, wenn in Zukunft nicht nur Computersysteme, sondern auch das menschliche Gehirn 'gehackt' werden kann." Sie glaube aber, dass es bis dorthin noch ein sehr, sehr weiter Weg sei. "Dazu müssten wir nicht zuletzt das Gehirn gut genug verstehen und 'vermessen' können, um eine passende Schnittstelle zwischen Gehirn und Maschine zu schaffen. Nachdem das Gehirn aber ein verteiltes, stark vernetztes System ist, ist es hier mit einem einzigen 'Standard-Schnittstellen-Stecker' sicher nicht getan", ist die Expertin überzeugt.
Bereits jetzt begleitet die Künstliche Intelligenz unser tägliches Leben: "Methoden der 'Applied AI' sind heute in jedem Computer, Smartphone und Navigationssystem integriert", betont sie.
Ethikfragen bremsen Forscher nicht aus
Ein eigenes Sub-Feld der KI widmet sich der Ethik. Sollte der Mensch einmal wirklich in der Lage sein, Maschinen mit menschenähnlichen geistigen und emotionalen Fähigkeiten zu entwickeln, würde dies natürlich eine Flut von Fragen aufwerfen. "Diese Problematik wird bereits relativ bildhaft in der Science Fiction-Literatur und von der Filmindustrie bearbeitet: Was würde passieren, wenn Maschinen eigenständig Kriege führen gegen einzelne Völker oder gar die gesamte Menschheit? Wären Familien und Betriebe mit denkenden und fühlenden Haushalts- und Handwerksrobotern Sklavenhalter? Wäre das Verschrotten solcher ausgedienter Robotermodelle Mord? Hätten Maschinen ein Recht auf Ehe, 'Reproduktion' oder gar Adoption?", so die Forscherin.
Noch sei man in der KI-Forschung längst nicht so weit. Doch: "Festzuschreiben, dass wir ein so bedeutendes und spannendes Thema aufgrund eventueller moralischer Bedenken nicht angehen sollen, wird für den menschlichen Forscherdrang wohl kein ausreichendes Hindernis sein", hält sie fest.
Von Sylvia Maier-Kubala / APA-Science
Service: Velik, Rosemarie: "AI Reloaded: Objectives, Potentials, and Challenges of the Novel Field of Brain-Like Artificial Intelligence"