Künstliche Intelligenz als Weichensteller
Bei der Planung von hoch komplexen Anlagen wie elektronischen Eisenbahnstellwerken sind Tausende verschiedene Komponenten und Abhängigkeiten zu berücksichtigen. So genannte Konfiguratoren helfen dabei, diese große Menge an Einflussvariablen zu berechnen und zu einem sinnvollen Ganzen zusammenzufügen. Um diese Probleme in den Griff zu kriegen, kommen bei Siemens Österreich Techniken aus der Künstlichen Intelligenz (KI) zum Einsatz.
"Wir beschäftigen uns in mit wissensbasierten Systemen, einem Teilbereich der KI, und dort mit dem Gebiet der Konfiguratoren. Technologien, die dahinter liegen, sind automatisches Problemlösen, Reasoning und Finden von optimalen Lösungen für große und komplexe Konfigurationsaufgaben", erklärte Herwig Schreiner, Leiter der Forschungsgruppe "Configuration Technologies" bei Siemens Österreich, im Gespräch mit APA-Science.
Ein einfaches Beispiel für die Funktionsweise eines Konfigurators ist ein Autokonfigurator im Internet. Man wählt schrittweise Optionen wie Motorisierung, Bereifung oder Farbe aus. Klickt man weiter, sind auf der nächsten Seite gewisse Teile nicht mehr auswählbar oder widersprechen sich und können dann nicht mehr gemeinsam gewählt werden. Schon bei einer Größenordnung von ungefähr 300 Ja/Nein-Entscheidungen ergeben sich laut Schreiner mehr Möglichkeiten, als es Atome im Universum gibt.
100.000 Entscheidungen
"Wir beschäftigen uns mit Systemen mit über 100.000 solcher Entscheidungen, wodurch das Ganze auch in eine Domäne der KI eintritt, wo die Lösungen nicht mehr ohne weiteres automatisch berechenbar sind", so der Experte. Hier gehe es um Probleme der sogenannten NP-Klasse (nichtdeterministisch polynomielle Zeit), bei denen man nicht mehr in akzeptabler Zeit vorhersagen könne, ob es überhaupt eine Lösung dafür geben wird oder nicht.
Bei elektronischen Eisenbahnstellwerken kommen Konfiguratoren in der Planung und Projektierung zum Einsatz: "Unsere Tools helfen, das System so zu planen und zu konfigurieren, sodass es dann korrekt zusammengebaut und in Betrieb gesetzt werden kann. Wir übernehmen aber nicht die Steuerung während der Laufzeit", so Schreiner.
Forschungsprojekt "Reconcile"
Um eine möglichst optimale Lösung für ein solch komplexes System zu finden, bedarf es ausgeklügelter Algorithmen, die Siemens in Zusammenarbeit mit Forschungspartnern wie der Universität Klagenfurt und dem österreichischen Informatiker Georg Gottlob an der University of Oxford im Rahmen des mittlerweile abgeschlossenen Forschungsprojekts "Reconcile" entwickelte.
Schlüsselthemen der wissensbasierten Konfiguration sind maschinelles Lernen, mathematische Logik und vor allem sogenannte Constraints, die helfen, Abhängigkeiten, Einschränkungen und Entscheidungen zu modellieren. Während etwa bei regelbasierten Systemen eine bestimmte Bedingung erfüllt sein muss, damit darauf die nächste Entscheidung folgt, beschreiben Constraint- basierte Systeme nicht einzelne Schritte des Wegs, sondern gleich das Ziel: "Das sind deklarative, mathematisch-logische Konstrukte, die keine Reihenfolge haben und brauchen."
Wenn beispielsweise auf einem Baugruppenträger - eine Art Gehäuse für verschiedene IT-Module - als technische Randbedingung vorgegeben ist, dass digitale und analoge Module nicht gemeinsam eingebaut werden dürfen, kann dies ganz einfach als Constraint beschrieben werden. "Wie ich zum Ziel komme, das entscheidet dann der Reasoning-Algorithmus. Der sucht und kombiniert so lange, bis er eine Lösung findet, die kein einziges Constraint verletzt", erklärt Schreiner, der sich bereits seit mehr als 20 Jahren mit KI, Expertensystemen und Konfiguratoren beschäftigt. Diese Technik sei daher regelbasierten System vorzuziehen, weil sie unabhängig von einer Reihenfolge ist und beweisbar korrekte Ergebnisse liefern könne, da sie auf mathematisch-logischen Grundlagen basiere.
Schreiner sieht seine Forschungsabteilung auf diesem Gebiet als Vorreiter, die technisch noch einen Schritt weiter gehe, weil sie Constraint-basierte Systeme in einem dynamischen Umfeld anwenden kann. Man spricht dabei von "Generative Constraint Satisfaction". Bei einem Stellwerk muss der Konfigurator von vornherein mit späteren Änderungen am Bahnhof, wie neue oder sich ändernde Signalpositionen und Distanzen umgehen können: "Es kommen ständig neue Einzelteile hinzu, es fallen welche weg und unser System kann trotzdem immer aufgrund der aktuellen Situation und Topologie die bestmögliche Lösung berechnen und feststellen, ob das Ganze korrekt und konsistent ist."
Menschliche Problemlösungsstrategien als Vorbild
Ein solcher Konfigurator spare mit seinen intelligenten Algorithmen in der Planung und in der Projektierung viel Zeit und zusätzliche Testzyklen. Die Entwicklung geht freilich ständig weiter. Bei dem aktuellen Forschungsprojekt HINT - Heuristic Intelligence wird etwa versucht, menschliches Problemlösungsverhalten in ein Computermodell abzubilden.
Schreiner spricht trotz ständig besser werdender Algorithmen in diesem Zusammenhang nur ungern von "Intelligenz": "Vielleicht auch deswegen, weil wir Einblicke in die Technologien haben, die dazu verwendet werden. Für mich ist das bei weitem noch nicht intelligent."
Die rund 20 Personen umfassende Abteilung Configuration Technologies ist Teil der zentralen Forschungseinheit "Corporate Technology", die seit einigen Jahren auch am Standort Wien vertreten ist. Neben jenem Siemens-Bereich, der sich mit Videoauswertungen und Visualisierungstechniken beschäftigt, ist die Konfigurationstechnologie einer der größten Teile der Corporate Technology in Österreich, der sich aktuell mit dem Thema KI befasst.
Von Mario Wasserfaller / APA-Science
Service: Dossier über Künstliche Intelligenz im Siemens-Magazin "Pictures of the Future": http://go.apa.at/xHYXr1gg