"Biologische Inspiration - Irrweg oder Erfolgsrezept?"
Die erstaunlichen Fähigkeiten des Gehirns faszinieren Wissenschaftler und Ingenieure gleichermaßen. Seit Alan Turings Vorschlag aus dem Jahre 1950 ist das von ihm selbst so bezeichnete "Imitation Game" eine wohl definierte Herausforderung für die Entwicklung künstlicher Intelligenz. Das Ziel ist somit klar, der Weg hingegen nicht. Liegt die Lösung in einer möglichst detailgetreuen Kopie der Biologie?
Flugzeuge schlagen nicht mit den Flügeln. Dieses Argument wird häufig ins Feld geführt, wenn es um die Frage geht ob eine technische Kopie biologischer Erfolgsmodelle zu technischer Innovation führen kann. Obwohl dieses Argument gegen den bionischen Ansatz verwendet wird, zeigt es doch sehr klar worauf es ankommt. Flugzeuge schlagen zwar nicht mit den Flügeln, jedoch nutzen sie genau wie die Vögel das physikalische Prinzip des dynamischen Auftriebs. Wer einen großen Raubvogel seine majestätischen Bahnen ziehen sieht, wird dies bestätigen. Es kommt also wohl nicht auf das biologische Detail, sondern vielmehr auf die zu Grunde liegenden physikalischen Prinzipen an. Es sind genau diese physikalischen Prinzipen, die das Gehirn neben der Eigenschaft "intelligent" zu sein, so fundamental verschieden von den traditionellen Computern machen. Seine Energieeffizienz, seine Robustheit gegen Schäden und seine Fähigkeit zu lernen lösen praktisch auf einen Schlag alle Probleme moderner Hochleistungsrechner: Deren extremen Energiebedarf, die Notwendigkeit aufwendiger Fertigungsverfahren zur Produktion von vielen hundert Millionen funktionierender Transistoren auf einem Chip und die notorische Unzuverlässigkeit komplexer Software.
Welche physikalischen Prinzipen können wir also vom Gehirn übernehmen und welche Details können sollten wir besser auslassen? Diese Frage ist bis heute nicht im Detail beantwortet, jedoch sind uns eine Reihe mikroskopischer Prinzipen aus biologischen Nervensystemen bekannt, deren Wert für die Informationsverarbeitung auch theoretisch untermauert sind. Da ist zunächst das Prinzip der massiven Parallelität und das Verschmelzen von Speicher- und Rechenfunktion. Diese Abkehr von der höchst erfolgreichen von Neumann Architektur führt zu Fehlertoleranz und Energieeffizienz. Informationen sind delokalisiert und der energieaufwendige Transport von Information zwischen Speicher und Rechenwerk fällt weg. Ein weiteres wichtiges Prinzip ist die zeitkontinuierliche und asynchrone Kommunikation über relativ seltene Aktionspotenziale. Auch dieses Prinzip spart Energie und bietet zugleich die Möglichkeit der Informationskodierung in der Zeitdimension. Neurobiologische Messungen zeigen uns, dass auf diesem Wege kausale Zusammenhänge entdeckt werden können. Dies ist ein erster Weg zu autonomem Lernen, der vielleicht wichtigsten Eigenschaft des Gehirns. Schließlich die Nutzung des Zufalls. Messungen an Zellen lebender Tiere zeigen ein stochastisches Verhalten. Ist dies nur eine Unzulänglichkeit der Natur, die wir besser ignorieren oder gar korrigieren sollten? Vermutlich nicht. Der österreichische Informationstheoretiker Prof. Wolfgang Maass von der TU Graz hat in den vergangenen Jahren eine konsistente Theorie formuliert, nach der das Gehirn mit Hilfe stochastischer Zellen im Netzwerk gespeicherte Wahrscheinlichkeitsverteilungen abruft.
Die drei genannten Prinzipen liefern zusammen genommen eine komplette Vorschrift zum Bau so genannter neuromorpher Computer. Gemeinsam mit den Kollegen aus Graz arbeitet unsere Heidelberger Gruppe an der praktischen, also elektronischen Realisierung solcher Systeme. Dies geschieht im Rahmen europäischer Verbundprojekte und seit etwas mehr als einem Jahr auch als Teilprojekt des in der Kritik stehenden Human Brain Projektes. Vielleicht ist dies ein Anlass, sich die Arbeiten an neuromorphen Systemen einmal etwas genauer anzuschauen?
Biologische Inspiration - Irrweg oder Erfolgsrezept? Ich denke, sie kann ein Erfolgsrezept sein, wenn man systematisch untersucht, welche zugrunde liegenden Prinzipen die Natur im Verlauf der Evolution genutzt hat. Für die Entwicklung neuartiger Computer nach dem Vorbild des Gehirns ist sie meiner Überzeugung nach der derzeit einzig gangbare Weg.