"Die Generäle im Gesundheitswesen: Vertrauen ändert alles"
Blockchain-Technologie ist eine einzigartige und unerwartete Kombination von drei Fachgebieten, nämlich: Internet, Kryptographie und Spieltheorie. Die ersten beiden dieser Disziplinen sind offensichtlich: Blockchain funktioniert über ein dezentrales Peer-to-Peer Netzwerk im Internet und Verschlüsselungstechnologien spielen bekanntermaßen eine bedeutende Rolle, um die Unverfälschbarkeit von Daten sicherzustellen. Was aber hat es mit der Spieltheorie auf sich? Und was hat das mit unserem Gesundheitssystem zu tun?
Vereinfacht gesagt ist die Blockchain eine öffentlich zugängliche Datenbank, die Informationen so speichert, dass niemand diese Informationen später verändern kann. Das ist sehr schwierig zu bewerkstelligen, wenn beliebige Teilnehmer Schreibzugriff auf die Blockchain haben, da diese Teilnehmer theoretisch auch den eigenen Interessen entsprechende, falsche Daten einspeichern können. Somit benötigt man einen Mechanismus, um Konsens über die richtige Version der Daten zu erzielen.
Dieses Problem bezeichnet man in der Mathematik als "byzantinisch", bzw. als das "Problem der byzantinischen Generäle". Man stelle sich vor, eine Anzahl von kleinen Armeen, alle von eigenständigen Generälen befehligt und jede für sich vollkommen autonom, wollen gemeinsam eine Stadt erobern. Um erfolgreich zu sein, müssen sie ihre Aktionen koordinieren, also beispielsweise zeitgleich angreifen. Dies ist allerdings nicht einfach: alle Generäle misstrauen einander aus Prinzip; manche Generäle sind Verräter und halten eigentlich zur belagerten Stadt; die einzige Kommunikationsmethode ist ein unsicheres System von Boten, die abgefangen werden oder selbst unehrlich sein können.
Es gibt nun aber ein mathematisches Verfahren, dass es ermöglicht, in einer solchen Situation Konsens zu erzielen, wenn es ausreichend Gleichgesinnte gibt. Dieses Prinzip benutzt auch die Blockchain, um Konsens über die "richtigen" Daten zu erzielen. Dadurch kann der Nutzer Vertrauen hinsichtlich der Korrektheit der Daten haben, muss aber keinem Teilnehmer im Netzwerk selbst trauen.
Was hat dies nun mit dem Gesundheitssystem zu tun?
In vielen Ländern mit entwickelten Volkswirtschaften kämpfen die Gesundheitssysteme mit akuten und chronischen Problemen, die von Land zu Land sehr ähnlich sind: steigende Kosten, inkompatible IT-Systeme, ineffiziente Strukturen, unfaire Verteilung, langwierige Prozesse, mangelnde Transparenz, mangelhafter Datenschutz, um nur einige zu nennen. Experten stimmen überein, dass diese Systeme in dieser Form auf Dauer nicht nachhaltig sind. Was aber liegt diesen Missständen zugrunde?
Es liegt auf der Hand, dass das Grundproblem auf die verschiedenen Interessenslagen der Teilnehmer an diesem komplexen Zusammenwirken zahlreicher Akteure zurückzuführen ist. Ärzte, Hospitäler, Kliniken, Labors, Apotheken, Pharmaproduzenten und -dienstleister, Pflegepersonal, Forschungseinrichtungen, Kammern, Standesvertretungen, Regierungsstellen, Steuerbehörden, Krankenkassen, Dachverbände, Patientenorganisationen, natürlich die Patienten selbst und letztlich auch einfache Steuerzahler sind alle Teil dieses Komplexes, der oft einen beträchtlichen Teil der wirtschaftlichen Wertschöpfung eines Landes ausmacht. Dieses dädalisch anmutende Labyrinth könnte man durchaus ebenfalls als "byzantinisch" bezeichnen.
Wie können all diese Parteien mit ihren unterschiedlichen, teils genau gegensätzlichen Interessen Konsens über Regelungen im Gesundheitssystem erzielen? Und könnte Blockchain-Technologie dieses System verändern?
Nehmen wir zum Beispiel ELGA, die Elektronische Gesundheitsakte. Hier werden Daten von Patienten und Patientinnen gespeichert, die beispielsweise in öffentlichen Spitälern behandelt werden. Das hat ohne Frage potenziell viele Vorteile, aber wie steht es mit dem Schutz der Privatsphäre? Wer kontrolliert diese Daten? Wie wird entschieden, wer wann darauf zugreifen kann? Wie gut sind die Daten gegen Diebstahl, Verlust, Fälschung und Missbrauch geschützt?
Die Betroffenen, falls sie überhaupt gefragt werden, sind dazu gezwungen, diese Daten den Menschen anzuvertrauen, die diese Systeme managen. Die Handhabung der Daten durch Ärzte, Krankenkassen und andere Institutionen ist vollkommen intransparent. Es ist in der Regel nicht nachvollziehbar, ob ein bestimmter Zugriff auf diese intimen Daten berechtigt war oder nicht.
In einem Blockchain-Szenario würden die Betroffenen beispielsweise selbst entscheiden können, was über sie gespeichert wird. Sie hätten vollkommene Kontrolle über die eigenen Daten und könnten diese Daten selbst freigeben und die Freigabe wieder entziehen. Sie könnten anonym an einem Patientenpool für klinische Studien teilnehmen und damit die medizinische Forschung extrem beschleunigen. Pfizer hat etwa bereits im Februar 2017 einen experimentellen Prototyp hierfür fertiggestellt, komplett mit mobiler App für Nutzer und Ärzte.
Es gibt unzählige andere denkbare Anwendungen von Blockchain-Technologie im Gesundheitsbereich, die alle dieses grundlegende (byzantinische) Vertrauensproblem lösen könnten: zum Beispiel eine Logistik-Blockchain gegen Medikamentenfälschung; eine Krankenkassen-Blockchain (besser: Gesundenkassen-Blockchain) zur transparenten Beitragserrechnung individuell für jeden einzelnen Versicherten auf Basis der verschlüsselt verwalteten Gesundheitsdaten (ohne diese der Versicherung mitteilen zu müssen); eine Unfallversicherungs-Blockchain mit automatischer Auszahlung mittels Crypto-Währung, und so weiter.
Auf jeden Fall besteht die Chance, die Faktoren Effizienz, Kostenwahrheit, Transparenz, Fairness und Datensicherheit entscheidend zu verbessern. Innovative Pharmaunternehmen, aber auch viele Technologie-Startups sind bereits emsig dabei, die Gesundheits-Ökonomie der Zukunft zu entwerfen. Aus heutiger Sicht ist allerdings noch schwer zu sagen, welche Ideen sich durchsetzen werden.
Den Kopf vor diesen Entwicklungen in den Sand zu stecken kann ich jedoch keinem der vielen Teilnehmer im Gesundheitswesen empfehlen. Womöglich kommt die Lösung nämlich "dezentral", also von außerhalb, völlig unabhängig von bestehenden Institutionen, Kassen, Krankenhäusern, etc., von irgendeinem vollkommen autarken globalen Startup-DAO (Dezentrale Autonome Organisation). Dann stünden die byzantinischen Generäle unseres Gesundheitssystems nämlich plötzlich ohne ihre Armeen da.