"Agrarsoziologie am Schnittpunkt von Landwirtschaft und Gesellschaft"
Die Agrarsoziologie hat sich lange vornehmlich mit rein agrarischen Themen wie Modernisierung, Strukturwandel, Hofnachfolge und der Erhaltung des Familienbetriebes beschäftigt. Eine Reihe von Forschungsfragen betreffen aber auch die Schnittstellen mit nicht-landwirtschaftlichen Gesellschaftsbereichen. Im Folgenden seien einige konkrete Beispiele herausgegriffen.
Der Großteil unserer Nahrung wird noch immer auf bäuerlichen Betrieben produziert. Die arbeitsteilige Gesellschaft hat jedoch Bäuerinnen und Bauern zu bloßen RohstofflieferantInnen für die Lebensmittelindustrie degradiert und uns alle zu KonsumentInnen von Convenience Food gemacht. Globale Vernetzungen und Konzentrationsprozesse in Verarbeitung und Handel machen es praktisch unmöglich zu wissen, welches Produkt wann, wo und vor allem wie hergestellt wurde. Paradoxerweise beschäftigt die Menschen die Frage, woher unsere Lebensmittel kommen und wie sie erzeugt werden, umso mehr, je weniger sie direkt darin eingebunden sind. Das sich daraus ergebende Bedürfnis nach Regionalität wurde längst von Supermärkten und Diskontern aufgegriffen, während die bäuerliche Direktvermarktung rückläufig ist. Das relativ junge Forschungsfeld der Agro-Food Studies versucht solchen Veränderungsprozessen entlang der gesamten Versorgungskette nachzugehen und ihren Einfluss auf Produktionsweisen und Konsumpraktiken besser zu verstehen.
Gleichzeitig boomen gesellschaftliche Phänomene wie "urban agriculture", Selbsterntefelder und Gemeinschaftsgärten. Je stärker unsere Arbeitswelt fragmentiert, getaktet und entrhythmisiert wird, desto mehr wollen wir erleben, wie aus einem Samenkorn eine essbare Pflanze wird. Neue Formen der Partnerschaft zwischen ErzeugerInnen und VerbraucherInnen lassen Lebensmittelnetzwerke entstehen, bei denen die üblichen Trennlinien zwischen Produktion und Konsumption verschwimmen. Weltweit entwickeln sich Formen von "community supported agriculture", in der ökologisches Wirtschaften eine selbstverständliche Grundvoraussetzung ist, die nicht über aufwendige Zertifizierungssysteme kontrolliert werden muss, sondern auf der Basis von gegenseitigem Kennen und Vertrauen operiert. Solche zivilgesellschaftlichen Lebensmittelnetzwerke bilden einen konkreten Baustein für die Transformation zu einer nachhaltigeren Lebensweise.
Wenn wir in unserer Freizeit die Stadt hinter uns lassen und uns in "die Natur" begeben, sind wir in aller Regel auf land- und/oder forstwirtschaftlich genutzten Grundstücken, ob auf Waldwegen, Wiesen, Felder und Almen im Sommer oder Skipisten und Langlaufloipen im Winter unterwegs. Zwischen FreizeitnutzerInnen und bäuerlichen BewirtschafterInnen führt die gegenseitige Entfremdung nicht selten zu Missverständnissen und Konflikten. Während die einen ein ländliches Idyll suchen, müssen die anderen von den Erträgnissen dieser Landschaft leben und im globalen Wettbewerb überleben. Agrarsoziologische Forschung kann helfen, die sozialen Konstruktionen, die hinter diesen unterschiedlichen Blickweisen auf den ländlichen Raum stehen, jeweils für die andere Seite sichtbar zu machen und damit die Konflikte zu entschärfen.
Auch wenn die Landwirtschaft in Österreich nicht bedeutend ist, weder gemessen an der Wirtschaftsleistung noch an der Zahl der Beschäftigten, verfügt sie maßgeblich über die natürlichen Ressourcen wie Boden und Wasser. Ökosystemleistungen wie Biodiversität und Schutz vor Naturgefahren werden sehr stark durch die Struktur und die Wirtschaftsweise landwirtschaftlicher Betriebe beeinflusst. Neben ökonomischen Zwängen, Regulierungsvorgaben und Förderungen durch die öffentliche Hand sind es hauptsächlich soziale Faktoren wie Habitus und das Streben nach Anerkennung, die das Selbstbild von Bäuerinnen und Bauern und damit auch die Art und Weise, wie Landwirtschaft betrieben wird, beeinflussen. Agrarsoziologische Forschung analysiert diese Faktoren und kann im Rahmen von Entscheidungsprozessen unterstützend herangezogen werden.
Die Europäische Union hat im laufenden Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 die "wissensbasierte Bioökonomie" mit einer nachhaltigen Ressourcennutzung als grüne Schlüsseltechnologie postuliert. Doch auch hier gibt es unterschiedliche Zugänge dazu, wie dies interpretiert werden kann, ob biotechnologisch in zentralistischen Strukturen einer Green Economy oder als ökologisch orientierter Umbau der Gesellschaft. Je nachdem, welche der beiden Strömungen sich auf lange Sicht durchsetzen wird, werden die Auswirkungen auf das landwirtschaftliche System und die Zukunft städtischer und ländlicher Räume fundamental verschieden sein. Auch hier kann die agrarsoziologische Forschung helfen, Konsequenzen besser abzuschätzen und Grundlagen für Entscheidungen liefern.
Das Forschungsfeld der Agrarsoziologie untersucht in all diesen Bereichen die gesellschaftlichen Trends, Tendenzen, Pfadabhängigkeiten und Auswirkungen. Sie analysiert die vielfältigen Beziehungen und Verflechtungen zwischen Stadt und Land, Produktion und Konsum, sie macht die dahinterliegenden Prozesse und Strukturen sichtbar und zeigt die Machtverhältnisse und Handlungsspielräume der beteiligten Akteure auf. Agrarsoziologische Forschung zeichnet damit nicht nur den Strukturwandel nach, sondern untersucht auch die Bedingungen für die zukünftige sozio-ökologische Resilienz bäuerlicher Betriebe.