Mit Sprache die Welt begreifen
Die Palette an menschlichen Erfahrungen, die direkt durch Sprache geformt werden, ist wesentlich breiter, als man bisher geglaubt hat. Sprache beeinflusst die Wahrnehmung von Raum und Zeit, aber auch das Gedächtnis und das Lernvermögen. Davon zeigt sich die US-amerikanische Kognitionspsychologin Lera Boroditsky überzeugt, die alten Theorien mit Aufsehen erregenden Experimenten neues Leben eingehaucht hat.
Als prominente Vertreterin des linguistischen Relativismus baut die gebürtige Weißrussin auf der sogenannten Sapir-Whorf-Hypothese auf, die eine starke Verbindung zwischen Sprache und Denken erkennt. Eine Gegenposition entstand durch die von Noam Chomsky entwickelte Theorie der universalistischen Grammatik, wonach das Denken von der Sprache weitgehend entkoppelt ist und alle Menschen schon mit denselben sprachlichen Grundregeln geboren werden.
Im Interview mit APA-Science (editiert und gekürzt) erzählt die an der University of California San Diego tätige Wissenschafterin von ihrer Faszination mit dem abstrakten Denkvermögen, der Orientierung von Aborigines und warum man seine eigenen Ansichten und Meinungen immer wieder kritisch hinterfragen sollte.
APA-Science: Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit Sprache und ihrem speziellen Thema der linguistischen Relativität zu beschäftigen?
Boroditsky: Ich war immer an Sprachen interessiert und daran, wie wir komplexes Wissen erzeugen. Ich war neugierig, wie wir Menschen hinter die physischen Grenzen unserer Körper und der Physik der Welt gehen können. Wir registrieren Photonen durch unsere Augen, Druckwellen über die Ohren, und wir können Kraft auf die physische Welt ausüben, um die Schwerkraft zu überwinden. Und dann kommen wir mit Ideen wie Gerechtigkeit oder Zeitreisen daher - wie machen wir das? Wenn wir sagen, das Beste liege vor uns und das Schlimmste sei hinter uns, bedeuten die Worte 'vor' und 'hinter uns' wirklich vorne und hinten, wenn wir über Zeit sprechen?
Und so machte ich eine Reihe von Experimenten, um zu sehen, ob es eine psychologische Realität für diese räumliche Repräsentation von Zeit gibt. (...) Es stellte sich heraus, dass Menschen, die verschiedene Metaphern für Zeit verwenden, tatsächlich auch verschieden über Zeit denken. Das machte wirklich Spaß und war faszinierend - und es rief eine Menge Kontroversen hervor. Dann wurde daraus eine ganze Forschungsagenda, weil es ein Thema ist, das ziemlich alle großen intellektuellen Fragen in der Erforschung des Verstandes verbindet.
So entstand daraus wieder eine sehr lebendige Debatte rund um die Welt, und experimentelle Psychologen wie ich begannen sich zu fragen: 'Was, wenn wir jetzt nicht nur amerikanische Studenten studieren?' Vielleicht sind sie ja nicht das perfekte Menschenmodell, Menschen können ja auch noch viel verschiedener sein. Und so wurde das in den vergangenen 20 Jahren wieder ein sehr aktives Forschungsgebiet.
APA-Science: Die Bandbreite der menschlichen Erfahrungswelt, die von Sprache geformt wird, ist demnach viel größer und weiter, als man vorher gedacht hat. Ist das damit überhaupt eine ganz neue Art, die Welt zu betrachten?
Boroditsky: Ja, weil wir hier über alles sprechen. Sprache ist ein universeller Teil der menschlichen Erfahrung. Es gibt fast kein Ding, über das es keinen Grund gibt zu sprechen. Und weil wir über so viele Dinge sprechen, hat Sprache potenziell die Fähigkeit, die Art zu formen, wie wir über diese Dinge denken.
Als Kognitionspsychologen haben wir dann unsere Studien an der Basis der Gedanken begonnen. Wir dachten, lasst uns Raum, Zeit, Kausalität, Farben, Objekte, Ereigniskategorien ansehen. Wollte man einen Baukasten der Kognition machen, dann würde man diese sehr grundlegenden Dinge betrachten.
In jedem Fall hat Sprache einen Effekt - aber sie hat auch strukturelle Effekte in verschiedenen Domänen. Womit wir begonnen haben, war eine einfache Frage: Formt Sprache Gedanken, ja oder nein? Natürlich kann keine wirklich interessante wissenschaftliche Frage jemals nur auf ein "Ja" oder "Nein" hinauslaufen. Will man eine interessante Frage haben, bekommt man auch mehr Komplexität. Das ist es, wo die Forschung gerade steht.
APA-Science: Können Sie ein paar Beispiele für Unterschiede zwischen Sprachen beschreiben, was die jeweilige Wahrnehmung von Realität betrifft?
Boroditsky: Gerne, ich kann mehrere nennen, und ich finde sie aus unterschiedlichen Gründen interessant. Einige Unterschiede in der Wahrnehmung können über die Kulturen hinweg ziemlich groß sein. Ich hatte die Gelegenheit, mit einer Aborigines-Gemeinschaft in Australien zu arbeiten, den Kuuk Thayorre. Dort verwenden sie keine Worte für links und rechts. Stattdessen setzen sie alles in Bezug zu den Himmelsrichtungen. Um so eine Sprache zu verwenden, muss man sehr gut orientiert sein. Sogar um Hallo zu sagen, muss man hinzufügen, in welche Richtung man geht. Und die Antwort ist dann so etwas wie: "Nach Südsüdwesten in diese und jene Entfernung - und du?"
Um also in jeder Konversation die Richtung anzugeben, muss man sich sehr schnell orientieren können. Die Kuuk Thayorre und andere Gruppen rund um die Welt bleiben immer sehr gut orientiert. Und zwar viel besser, als wir dachten, dass Menschen dazu überhaupt in der Lage sind. Das ist es, was ich an dieser Arbeit liebe - es ist übrigens eine Entdeckung von John Haviland (US-amerikanischer anthropologischer Linguist; Anm.) und Stephen Levinson (britischer Sozialwissenschafter; Anm.).
Davor gab es all diese Arbeiten, die Menschen und Tiere verglichen, und die Tiere gewannen oft bei Navigations-"Wettbewerben". Wir hatten also immer eine Art biologische Ausrede, warum wir bei der Orientierung nicht so gut wie Tiere sind - keinen Magneten im Schnabel, nicht sensibel für den Winkel des Lichts oder so ähnlich. Und nun kommen diese Forscher daher, die sich diese Communities in Australien angeschaut haben und zeigen, dass diese Menschen sich auf eine Art orientieren können, wie man es bis dahin für biologisch unmöglich gehalten hat. Es stellte sich heraus, dass sie eine Sprache sprechen, die ihnen abverlangt, aufmerksam zu sein und sie darin trainiert, orientiert zu bleiben.
Ich mache oft einen ganz einfachen Orientierungstest. Wenn ich vor einem Publikum voller Englischprofessoren in einem Vortragssaal stehe, in dem sie schon oft waren und ihnen sage: "Schließen Sie Ihre Augen und zeigen Sie nach Südosten", dann zeigen sie in jede mögliche Richtung. Ich war davon ziemlich überrascht. So kommt es zu einem gewaltigen kognitiven Unterschied, weil eine Fünfjährige einer (Aborigines-)Kultur etwas besser kann als ein ganzer Raum voller verdienter Universitätsprofessoren einer anderen Kultur.
APA-Science: Ergeben sich durch diesen Fokus auf die Orientierung auch andere Besonderheiten?
Boroditsky: Es wirkt sich auch auf die Zeitwahrnehmung aus. Wenn man über Zeit nicht in Bezug auf den eigenen Körper denkt, sondern mit Hilfe der Himmelsrichtungen. Für die Kuuk Thayorre vergeht die Zeit von Osten nach Westen, sie folgt also der Sonne.
Ich habe Englisch sprechenden Personen Fotos von meinem Großvater in verschiedenen Altersstufen vorgelegt, und sie sollten sie chronologisch anordnen. Sie haben wie erwartet die Fotos von links nach rechts aufgelegt. Wenn ich die gleiche Aufgabe einem Kuuk Thayorre gebe, dann legt er die Fotos von links nach rechts auf, wenn er nach Süden schaut. Sitzt er in Richtung Norden, legt er sie von rechts nach links auf. Sitzt er in Richtung Osten, dann legt er die Fotos der Reihe nach auf seinen Körper hin auf. Sie organisieren Zeit also immer in Bezug auf die Landschaft und nicht in Bezug auf ihren Körper.
APA-Science: Was gibt es sonst noch für Unterschiede zwischen Sprachen und Kulturen, außer der Zeit- und Raumwahrnehmung?
Boroditsky: Ein anderer riesiger Unterschied liegt in der kulturellen Perspektive auf Zahlen. Sprachen unterscheiden sich stark in der Art ihrer numerischen Systeme. Anstatt des Dezimalsystems, das auf zehn Ziffern basiert, gibt es auch solche die auf 27 oder 5 Ziffern basieren. Einige Sprachen haben auch gar keine Wörter für exakte Zahlen, oder sie haben etwa ein Wort für 1 und 2, dann für "wenig" und "viel", aber keines für die Zahl 7. (...)
Sprache kann das Denken also in ganz spezifischen Domänen formen, wie bei der Orientierung, beim Organisieren von Zeit und bei Zahlen. Sprachliche Strukturen können aber auch sehr breite Effekte haben. Ein albernes Beispiel: Viele Sprachen haben ein grammatisches Geschlecht. Deutsch hat männlich, weiblich und sächlich, und das gilt natürlich auch für unbelebte Objekte oder abstrakte Entitäten; Dinge, die kein biologisches Geschlecht haben. Die zugeschriebenen Geschlechter variieren aber über verschiedene Sprachen hinweg. Zum Beispiel ist der Mond auf Deutsch männlich, auf Spanisch aber weiblich. Bei der Sonne verhält es sich genau umgekehrt.
Die Frage ist: Denken Deutsch sprechende Personen von der Sonne tatsächlich als eher weiblich und vom Mond als eher männlich? Es stellte sich in verschiedenen Studien heraus, dass die Leute diesem grammatischen Geschlecht tatsächlich Bedeutung zumessen. Fragt man Menschen nach drei Adjektiven, eine Brücke zu beschreiben, werden Deutschsprecher wahrscheinlich eher Wörter verwenden wie schön, grazil oder elegant, während Spanischsprecher eher sagen, dass Brücken groß und stark sind - stereotyp männliche Wörter. Was für mich dabei interessant ist: Wenn du nur eine Sprache sprichst, die ein grammatisches Geschlecht hat, dann glaubst du, dass dieses Geschlecht wirklich etwas über das Objekt selbst aussagt. (...)
APA-Science: Man versteht also immer besser, welche Macht Wörter und die Sprache an sich besitzen. Welche politischen und gesellschaftlichen Implikationen haben Ihre Erkenntnisse - Stichwort Fake News und Framing?
Boroditsky: Im Kontext mit Framing (etwa: "Deutungsraster" hinter einem Wort oder einer Phrase; Anm.) sind diese Faktoren extrem wichtig. Wenn man sich die linguistischen Unterschiede zwischen Kulturen ansieht, dann sagt das viel darüber aus, wozu der menschliche Verstand fähig ist und wie viel Varietät und Flexibilität hinter dem persönlichen Horizont liegen können. Selbst wenn man nur innerhalb einer Sprache bleibt, kann man sehen, wie viel Macht eine Sprache darüber hat, wie man über ein politisches Thema denkt.
Wir machen viele Arbeiten in diese Richtung, wo wir Menschen Metaphern für verschiedene soziale Themen finden lassen und uns dann ansehen, wie sie sich verhalten. Und natürlich sehen wir dann die Macht des linguistischen Framings für Politik auf der Weltbühne, das ist extrem wichtig. Ein Beispiel, das mir sehr nahe liegt, ist die Sprache, die rund um Immigration und Flüchtlinge verwendet wird. Im Englischen und auch in anderen Sprachen schleichen sich dafür oft bestimmte Metaphern ein wie "Plage", "Krankheit" oder "Schädlinge". Das ist sehr heimtückisch, weil es entmenschlichend ist und in weiterer Folge entmenschlichende Politik ermöglicht.
APA-Science: Woran arbeiten Sie derzeit und was ist das "ultimative" Ziel Ihrer Forschung, wenn es so etwas gibt?
Boroditsky: Das ultimative Ziel ist, so viel wie möglich davon zu verstehen, wie wir dazu kommen, so zu denken, wie wir es tun - und warum die Welt für uns so aussieht, wie sie es tut. Wie bauen wir diese hoch entwickelten Wissenssysteme, was macht uns Menschen so schlau? Der Verstand ist so kompliziert und wir kommen ihm nicht im Entferntesten auf die Spur. Es gibt hier unglaublich viel Arbeit, für mich und viele Generationen nach mir. Momentan arbeite ich hauptsächlich daran, in detaillierten Studien die Mechanismen zu verstehen, mit denen Sprache die Gedanken formt.
Eine andere aufregende Sache für mich ist es, neue ökonomische und datenwissenschaftliche Tools zu verwenden, um diese Fragen zu untersuchen. Es gibt heute schon so viele Daten über das menschliche Verhalten, dass man es mit dem linguistischen Verhalten in Relation setzen kann. Ich glaube, dass es potenziell wirklich interessante Interaktionen zwischen Sprache und dem menschlichem Verhalten auf großflächiger Basis geben kann. In diesem Bereich gibt es noch sehr viel zu entdecken.
APA-Science: Was kann man aus Ihren Forschungsergebnissen in den Alltag mitnehmen?
Boroditsky: Wenn man von anderen Sprachen und Menschen hört, die anders denken, ist es leicht zu sagen: 'Oh, diese Menschen sind von ihrer Sprache und Kultur beeinflusst, ist das nicht seltsam. Aber ich sehe die Realität und die Welt, wie sie wirklich ist.' Das ist natürlich absurd. Wir alle sind Produkte der Sprachen und Kulturen, denen wir angehören. Die interessanteste Sache, die man von der Betrachtung verschiedener Sprachen mitnehmen kann, ist es, den Spiegel zu sich selbst zu drehen und sich zu fragen: Warum ist das so, wie es ist? Warum denke ich diese Dinge? Warum denke ich, dass dies richtig und jenes falsch ist? Das eröffnet einen Raum dafür zu hinterfragen, wo unsere Ansichten herkommen. Wir alle haben eine Menge sozusagen empfangenes Wissen in unserem Kopf. Wir überlegen uns aber nie wirklich, wie es dazu kommt, dass wir das wissen und warum das richtig sein soll.
Und im derzeitigen politischen Klima kommen wir alle mit Menschen in Berührung, mit denen wir anderer Meinung sind. Wir glauben, dass wir recht und sie unrecht haben, entweder weil sie die Fakten ignorieren oder voreingenommen sind. Das sind die einzigen Begründungen dafür, warum wir im Widerspruch stehen. Eine andere Möglichkeit ist natürlich, dass beide Seiten verschiedene Erfahrungen und Perspektiven hatten, und dass ihr Denken auf ganz andere Art geformt wurde. Ich würde Menschen einfach ermutigen, dass sie sich nicht scheuen, danach zu fragen, warum sie Dinge denken, wie sie es tun. Muss das wahr sein? Könnte es in einer anderen Sprache anders sein? Muss das unbedingt genau so sein?
Das Gespräch führte Mario Wasserfaller / APA-Science