Kinder lernen Sprachen intuitiv
Kinder erlernen ihre Muttersprache meist ungesteuert und intuitiv. Ein paar Fragen, unter welchen Umständen auch eine zweite oder dritte Sprache mühelos erworben werden kann und warum es rund ums Sprachenlernen menschliche Interaktion braucht, hat der Psycholinguist Peter Hummer von der Universität Salzburg im Gespräch mit APA-Science beantwortet.
APA-Science: Wann ist der beste Zeitpunkt, um eine Sprache zu lernen?
Hummer: Mein Credo: es gibt ein biologisches Zeitfenster, innerhalb dessen Sprache anders erworben wird als danach. Begegnet einem Kind in dieser sensiblen Phase, welche laut Mehrheitsmeinung circa mit dem Beginn der Pubertät endet, eine weitere Sprache in ausreichender Quantität und Qualität, wie das etwa in einer zweisprachigen Familie der Fall ist, dann wird diese auf dieselbe Weise erschlossen wie die Muttersprache. Im besten Fall resultiert daraus muttersprachliche Kompetenz in zwei, drei oder mehr Sprachen - also Bi-, Tri- oder Multilingualismus. Kinder erlernen eine Sprache ungesteuert, unbewusst, intuitiv und eingebettet in das kommunikative Alltagsleben. Explizites Korrigieren, etwa durch Eltern, schadet in dieser Phase eher als es nützt.
Jenseits dieses genannten Zeitfensters gelingt das Sprachenlernen nicht mehr so spielerisch und mühelos, muttersprachliche Kompetenz als Ergebnis ist nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme. Vor allem aber geht mit zunehmendem Alter nach der Meinung der meisten Fachkollegen allmählich die intuitive Herangehensweise verloren. Offenbar ändern sich die Lernstrategien, Didaktik und Sprachunterricht gewinnen an Bedeutung. Zweitsprachenerwerb erfolgt meist gesteuert, bewusst und - je nach Unterrichtsmethode - nicht, oder nicht zur Gänze in den kommunikativen Alltag eingebunden. Wird eine Fremdsprache ungesteuert erlernt, führt dies typischerweise zu unzulänglicher Sprachkompetenz, Stichwort "Gastarbeiterdeutsch".
APA-Science: Welche Rolle spielen Emotionen beim Sprachenlernen?
Hummer: Emotionen spielen sicher eine Rolle, aber wiederum bei Kindern und Jugendlichen bzw. Erwachsenen auf unterschiedliche Weise. Die Aneignung von Fremdsprachen ist zumeist mühsam und bedarf extrinsischer Motivation, die aus positiv besetzten Lernzielen gewonnen werden kann - man lernt vielleicht für bessere Karrierechancen, für einen fremdsprachigen Partner oder eine geplante Urlaubsreise.
Ganz anders beim Erstspracherwerb, der keine willentliche Lernanstrengung braucht, sondern dem Kind gewissermaßen widerfährt. Kinder sind intrinsisch motiviert, der Lernprozess selbst bereitet Freude. Dabei erweisen sie sich als robuste Lerner, die auch in widriger Umgebung ans Ziel kommen, vorausgesetzt, es handelt sich nicht um Extremfälle sozialer Deprivation, wie bei den sogenannten "Wolfskindern".
Freilich nützt eine intakte Eltern-Kind-Beziehung auch dem Erstspracherwerb: Je intensiver die auch verbale Interaktion mit dem Kind ist, desto reichhaltiger ist das Sprachvorbild und der Sprach-Input. Darüber hinaus wurde in vielen, wenn nicht sogar allen Kulturen bzw. Sprachen beobachtet, dass die Bezugspersonen den Kindern unbewusst Schützenhilfe leisten, indem sie mit ihnen in einem besonderen Stil sprechen, in einer Art "child-directed speech" ("Baby Talk", "Motherese", früher "Ammensprache"). Typisch dafür sind die erhöhte Stimmlage und Stimmmodulation, ein geringeres Sprechtempo, kürzere bzw. strukturell einfachere Äußerungen - stets in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand des Kindes.
APA-Science: Wie lernt man Sprache am schnellsten und was wirkt förderlich?
Hummer: Das lässt sich nicht so einfach beantworten, zumal viele Spracherwerbsmodelle miteinander konkurrieren und selbst bei Grundsätzlichem ("Meilensteine des Spracherwerbs") gelegentlich Uneinigkeit herrscht. Es kommt nicht von ungefähr, dass ein "State-of-the-art"-Werk wie "The Oxford Handbook of Developmental Linguistics" nicht weniger als 1.023 Seiten umfasst - ausschließlich zum Erstspracherwerb, wohlgemerkt.
Was, bezogen auf die vorpubertäre Zeit, förderliche Rahmenbedingungen betrifft, ist es sinnvoll, ein reichhaltiges Sprachangebot sicherzustellen, dazu gehört auch gemeinsames "Bilderbuch-Lesen". Bereits früh, etwa im Kindergarten, sollten Kinder, sofern die Möglichkeit besteht, mit einer weiteren Sprache in Kontakt treten. Und zwar spielerisch: ohne Unterricht, ohne Lernziel und ohne die Erwartung, dass die Kinder die passive Kompetenz in einer weiteren Sprache auch aktiv umsetzen. Es gilt, alles zu vermeiden, was ihnen die Lust am Spracherwerb vergällen könnte, also auch auf explizite Korrekturen vermeintlicher kindersprachlicher Fehlleistungen zu verzichten.
Mit der ersten Sprache müssen Grundlagen geschaffen werden, die dem Erwerb weiterer Sprachen zugutekommen. Dazu gehört etwa die verbale Bezugnahme auf Objekte, die nur in sozialer Interaktion gelernt werden kann: Wenn Mutter und Kind ihr Blickverhalten koordinieren und dasselbe Objekt fixieren, das sie dann beide benennen. Vor dem TV-Gerät allein gelassen lernt kein Kind die Muttersprache.
(Die Fragen stellte Sylvia Maier-Kubala / APA-Science)
Zur Person: Peter Hummer beschäftigt sich mit "Kindersprache", dem typischen Erstsprachenerwerb, forscht zur Sprachentwicklung bei ehemals gehörlosen Kindern mit einem Cochlear-Implantat sowie zur Dyslexie ("Legasthenie") in Zusammenhang mit audio-visueller Sprachverarbeitung ("Lippenlesen").