Worte mit Wirkung
Hinter etwas so Alltäglichem und Selbstverständlichem wie der Sprache verbergen sich bei genauerer Betrachtung Einblicke in viel größere Zusammenhänge, die mitunter durchaus kontrovers diskutiert werden. APA-Science bietet im vorliegenden Dossier einen Überblick über die spannendsten Entwicklungen an der Schnittstelle von Neurowissenschaften, Psychologie und Linguistik.
Darunter finden sich Fragestellungen wie: Wann ist der beste Zeitpunkt, eine Sprache zu lernen? (siehe "Kinder lernen Sprachen intuitiv"); Wie wird korrekt gegendert (siehe "Genderei und Hühner_ei")?; Alexa & Co.: Was können die neuen "Butler"? (siehe "Im Gespräch mit Maschinen"); Wie zeigt sich der Wandel der Sprache? (siehe "Wenn ein Fehler Konvention wird").
Zahlreiche Expertinnen und Experten kommen im Rahmen des Dossiers zu diesen und anderen Themen zu Wort. Zudem haben wir im Rahmen einer Mini-Umfrage Personen aus Wissenschaft, Bildung und Wirtschaft befragt, wie sie ganz persönlich den Wandel der Sprache erleben (siehe "Wir sollten einfach mehr Gedichte lesen").
Eine der Schlüsselfragen der modernen Sprachwissenschaft betrifft jedoch den Zusammenhang zwischen Sprache, Denken und Wahrnehmung. Wie sehr Sprache das Denken formt, darüber wird noch debattiert.
Von Seelen und Rosen
"Eine andere Sprache zu sprechen, bedeutet, eine zweite Seele zu besitzen", soll Karl der Große einmal gesagt haben. Sprache ist nach dieser Lesart weit mehr als ein Kommunikationsmittel, sie beeinflusst unsere Einstellungen und unsere Wahrnehmung. Auf der anderen Seite lässt William Shakespeare Julia sagen: "Was uns Rose heißt, wie es auch hieße, würde lieblich duften." Demnach ist es für die Wahrnehmung völlig einerlei, wie ein Ding bezeichnet wird. Auf diese Weise illustrierte die US-Kognitionswissenschafterin Lera Boroditsky im Gespräch mit APA-Science eine uralte Kontroverse, ob und wie sehr Sprache den Gedanken Gestalt verleiht (siehe dazu auch das vollständige Interview: "Mit Sprache die Welt begreifen").
Der Streit entzweit Linguisten seit langem. Befürworter des linguistischen Relativismus bauen auf einer Weiterentwicklung der gut 70 Jahre alten Sapir-Whorf-Hypothese auf und sind überzeugt, dass Sprache großen Einfluss auf das Denken hat. Demnach bieten die spezifischen grammatikalischen Strukturen und das Vokabular einer Sprache deren Sprecherinnen und Sprechern unterschiedliche mentale Interpretationsmöglichkeiten. Es macht also für die jeweilige Gedankenwelt einen Unterschied, ob man Russisch, Japanisch oder Deutsch spricht.
Das andere Lager - mit dem US-Linguisten Noam Chomsky an der Spitze - vertritt den Standpunkt, dass das Denken von der Sprache weitgehend entkoppelt ist und alle Menschen schon mit denselben sprachlichen Grundregeln geboren werden. Eine Vielzahl an ausgefeilten Experimenten in den vergangenen 20 Jahren legt jedoch nahe, dass es bei einem erwachsenen Menschen offenbar kaum Denkvorgänge gibt, bei denen Sprache keine Rolle spielt. "Sprache bestimmt, wie wir unsere Umgebung und andere Menschen wahrnehmen, und mit welcher Leichtigkeit Informationen und Fakten von unserem Gehirn registriert werden", schreibt die deutsche Kognitionswissenschafterin Elisabeth Wehling in ihrem Buch "Politisches Framing".
"Bewegende" Sprache
Zudem wirkt sich Sprache direkt auf unser Handeln aus, etwa auf die Körperbewegung und das soziale Verhalten. Sprachliche Informationen werden im Gehirn simuliert, um sie zu verstehen. Das Gehirn aktiviert einen Deutungsrahmen, in der kognitiven Wissenschaft "Frame" genannt, wenn es darum geht, Ideen oder Worte zu begreifen. Teil dieser Frames, so Wehling, "ist immer auch die kognitive Stimulation von Dingen, die wir in der Regel überhaupt nicht als Teil von 'Sprache' einstufen - Bewegungen, Geräusche, Gerüche, Emotionen, Bilder und viel mehr".
Anschaulich gezeigt hat das eine Versuchsreihe an der Universität Aberdeen. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie wurden instruiert, entweder über vergangene oder zukünftige Ereignisse nachzudenken. Jene, die an die Zukunft dachten, lehnten sich unbewusst nach vorne. Jene aber, die an die Vergangenheit dachten, lehnten sich zurück. Das hängt in der westlichen Kultur mit dem räumlich-linearen Begreifen von der Zukunft als vor uns liegend und der Vergangenheit als hinter uns liegend zusammen.
"Sprache kann das Denken in ganz spezifischen Domänen formen, wie bei der Orientierung, beim Organisieren von Zeit und bei Zahlen", sagt Boroditsky, die dafür jeweils eigene Forschungsdaten vorzuweisen hat. Studien zum Einfluss der Muttersprache auf das kognitive System zeigen dies anhand einfacher Beispiele. Viele Sprachen weisen unbelebten Objekten ein Geschlecht zu. Das führt tatsächlich zu geschlechtsspezifischen Zuschreibungen für diese Objekte, wie die Forscherin in einem Experiment herausfand.
Jeweils eine Gruppe Spanisch bzw. Deutsch sprechender Personen musste bestimmten Begriffen Adjektive zuordnen. "Brücke" hat im Deutschen einen weiblichen Artikel und wurde von den Versuchspersonen mit stereotyp weiblichen Eigenschaften assoziiert, wie "grazil", "elegant" oder "schön". Auf Spanisch ist die Brücke männlich ("el puente"), was die spanisch sprechenden Personen mit eher männlich konnotierten Assoziationen bedachten, wie "stark" und "groß". "Was für mich dabei interessant ist: Wenn du nur eine Sprache sprichst, die ein grammatisches Geschlecht hat, dann glaubst du, dass dieses Geschlecht wirklich etwas über das Objekt selbst aussagt", so die an der University of California in San Diego tätige Psychologin.
Was bei "männlichen" oder "weiblichen" Gegenständen eher anekdotischen Charakter hat, kann im politischen Sinne durchaus zum Nachdenken anregen. "Nicht Fakten, sondern Frames sind die Grundlage unserer alltäglichen sozialen, ökonomischen und politischen Entscheidungen", sagt Wehling. Und Frames, die in Diskursen zuerst gesetzt werden, dominieren das Denken. Das gilt besonders für Metaphern. Schon Wehlings wissenschaftlicher Mentor, der Philosoph und Sprachwissenschafter George Lakoff, hat nachgewiesen, dass Metaphern nicht einfach nur Hilfsmittel zum besseren Verständnis komplexer Phänomene sind. Sie strukturieren auch das Denken und Handeln.
Virus vs. Bestie
Wie einfach die Einstellungen von Menschen zu einem Thema manipuliert werden können, im vorliegenden Fall mit praktisch nur einem veränderten Wort, haben Boroditsky und ihr Kollege Paul Thibodeau 2011 bei einer Reihe von mittlerweile berühmten Experimenten an der Universität Stanford gezeigt. Dabei wurden Probanden in zwei Gruppen geteilt, die beide einen Text über die steigenden Kriminalitätsraten einer fiktiven Stadt zu lesen bekamen. Der kurze Absatz war in beiden Varianten von den Fakten her völlig identisch, sie enthielten unter anderem diese zentrale Information: "Im Jahr 2004 wurden noch 46.177 Verbrechen gemeldet, 2007 waren es bereits 55.000." Der Unterschied lag im Wesentlichen nur in der einleitenden Formulierung. In einer Version hieß es "Der Kriminalitätsvirus infiziert zunehmend die Stadt Addison. (...)", in der anderen "Die Kriminalitätsbestie jagt zunehmend (...)".
Befragt nach Lösungsansätzen für das angebliche Kriminalitätsproblem, setzte sich die "Virus"-Gruppe für den Abbau von Armut und eine bessere Bildung ein, um die Gesellschaft widerstandsfähiger zu machen. Die "Raubtier"-Gruppe hingegen trat dafür ein, mit mehr Polizei gegen Kriminelle vorzugehen und sie zu langen Haftstrafen zu verurteilen. Damit hat die Studie gezeigt, wie sich ein unterschiedliches sprachliches Framing für ein und denselben Sachverhalt auf die Meinungsbildung auswirkt.
Koreanisch und Deutsch
Ähnlich wie Boroditsky untersucht auch ein Forschungs-Team an der Universität Wien, wie Sprache das Denken und die Wahrnehmung beeinflusst. Konkret gehen die Psycholinguistin Soonja Choi und der Kognitionspsychologe Ulrich Ansorge vom Institut für Sprachwissenschaft im Rahmen des Projekts iCLAP (Cognition, Language And Perception) der Frage nach, ob Menschen, die Deutsch als Muttersprache haben, anders denken als Menschen, die mit Koreanisch aufgewachsen sind. Verdeutlichen lässt sich das Vorhaben laut Projektbeschreibung anhand eines Beispiels: "Eine Koreanerin und eine Österreicherin werden Zeuginnen eines Heiratsantrags. Doch leider passt der Verlobungsring nicht - er ist etwas zu klein für den Ringfinger. Zuhause berichten sie ihren Familien von dem Erlebnis. Auf Koreanisch erzählt sich die Geschichte allerdings anders als auf Deutsch: Die koreanische Sprache beschreibt allein mit dem Verb 'kkita', ob der Ring bündig mit dem Finger abschließt oder nicht. Auf Deutsch verwendet man dafür adverbiale Umschreibungen, die aus mehreren Wörtern bestehen, wie beispielsweise 'zu eng'."
In beiden Sprachwelten gibt es kleine, aber möglicherweise ganz entscheidende Unterschiede. Koreanisch sprechende Personen würden durch ihre Sprache ein Augenmerk auf die räumliche Umschließung von Objekten legen, doch sie unterscheiden nicht, ob der Ring auf den Finger oder der Finger in den Ring gesteckt wird. Die Bewegung rücke sprachlich in den Hintergrund. Im Gegensatz dazu differenziert das Deutsche mithilfe von Präpositionen wie "auf" oder "in" genau diese Fälle, die es im Koreanischen nicht gibt: Der Ring wird auf den Finger gesteckt (Ring bewegt sich) oder der Finger wird in den Ring gesteckt (Finger bewegt sich).
"Koreanisch und Deutsch sprechende Menschen beschreiben also dieselbe Situation auf unterschiedliche Art und Weise, mit mehr Augenmerk auf Bewegung oder auf räumliche Abstände. Wir erforschen, ob und wie dies auch ihre Wahrnehmung beeinflusst", erklärt Choi, die das noch bis Mai 2019 laufende und vom Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF) geförderte Projekt gemeinsam mit Ansorge leitet.
Relativer Relativismus
Formt Sprache nun das Denken, wie im linguistischen Relativismus postuliert, oder gilt der Ansatz einer universalistischen Grammatik, also einem angeborenen Verständnis von Sprache? Manfred Kienpointner, Professor für Sprachwissenschaft an der Universität Innsbruck, hat sich immer wieder mit dieser Frage auseinandergesetzt. Abgewinnen kann er beiden Positionen etwas, aber keinen radikalen Auslegungen - und damit spricht er für viele andere Expertinnen und Experten, die den Streit beobachtet haben: "Ich selbst würde für einen gemäßigten Relativismus plädieren, das ist meine Position vor dem Hintergrund der Forschungen der letzten 20 bis 30 Jahre."
Von Mario Wasserfaller / APA-Science