"Quantenphysik: Die missverstandene Wissenschaft"
Wenn man krank ist, kann man zum "Quantenmatrix-Heiler" gehen. Wer Kontakt zu Verstorbenen aufnehmen möchte, kann okkulte Quantenkommunikation mit dem Jenseits ausprobieren. Und wer hyperaktive Kinder hat, kann sich in schlauen Büchern erklären lassen, dass es sich um "Quantum Engel Kinder" handelt - hochbegabte Lichtkinder, die uns den Weg in eine erleuchtete Zukunft ebnen. Es gibt kaum einen esoterischen Unfug, den nicht irgendjemand mit den Begriff der "Quanten" zu rechtfertigen versucht. In beinahe religiöser Ehrfurcht wird die Quantenphysik mit einer Aura des Geheimnisvollen, Unverständlichen oder Spirituellen verziert.
Das ist schade - denn die Quantenphysik hat mit Mystik oder Esoterik nichts zu tun. Sie ist eine wissenschaftliche Theorie, wie andere auch. Sie besteht aus Formeln und mathematischen Gesetzen. Man rechnet, und am Ende kommt eine Zahl heraus.
Alltagsverstand und Quanten
Dass die Quantenphysik so gerne als Schein-Erklärung für unwissenschaftlichen Aberwitz herhalten muss, ist allerdings kein Zufall. Die merkwürdige Welt der Quanten erscheint unseren beschränkten menschlichen Gehirnen tatsächlich oft recht fremd und verwirrend. Für den Wissenschaftsjournalismus, der exakt und verständlich über Quantentechnologien berichten soll, ist das eine ganz besondere Herausforderung. Wenn wir gedanklich zwischen Molekülen und Elementarteilchen herumspazieren geht es uns manchmal wie einem Reisenden in einem völlig fremden Land, der die Sprache nicht versteht und mit der ungewohnten Kultur ringsherum nicht zurechtkommt. Das heißt aber nicht, dass die fremde Kultur unlogisch oder mystisch ist. Der Reisende ist nur nicht an sie gewöhnt.
Wir wachsen nun mal in einer Welt auf, in der die entscheidenden Objekte unseres Alltags eine Größe im Zentimeter- oder Meterbereich haben. Eine Ameise ist tausendmal kleiner als wir. Sie lebt bereits in einer völlig anderen Wahrnehmungswelt als wir Menschen. Ein Bakterium ist noch einmal tausendfach kleiner als eine Ameise. Und die Welt der Moleküle und Atome beginnt auf einer abermals tausendfach kleineren Längenskala. Dass dort, in diesem Bereich, der von unserer Alltagserfahrung unvorstellbar weit entfernt ist, andere Regeln gelten als in unserem Alltag, sollte uns nicht verwundern. Wie sollte es anders sein?
Verschiedene Zustände gleichzeitig
Eine besonders harte Nuss für unseren Alltagsverstand sind sogenannte "Quanten-Überlagerungen". Quantensysteme können in vielerlei Hinsicht unterschiedliche Zustände annehmen - Atome können unterschiedliche Mengen an Energie haben, Lichtwellen können in unterschiedliche Richtungen schwingen, Molekülbindungen können zerbrochen sein, oder auch nicht.
Bis hierher legt unser Alltagsverstand noch keinen Protest ein. Doch die Quantenphysik sagt, dass auch beliebige "Überlagerungen" diese Zustände erlaubt sind: Ein Atom kann sich gleichzeitig im einen und im anderen Energiezustand befinden, ein Lichtteilchen kann gleichzeitig horizontal und vertikal schwingen, ein Molekül kann gleichzeitig sowohl ganz als auch zerbrochen sein. Das lässt sich mit unserem bauchgefühlten Hausverstand nicht mehr vereinen.
Das bedeutet, dass ein unverzichtbares Werkzeug der Wissenschaftskommunikation bei der Quantenphysik an ihre Grenzen stößt - nämlich das Verwenden von Gleichnissen. Gerne wird Wissenschaft erklärt, indem man auf wohlbekannte Alltagsphänomene verweist: Man muss nur zwei Sofakissen gegeneinanderschieben, um die Grundidee der Plattentektonik zu illustrieren. Man kann Experimente mit Wasserflaschen und Luftballons machen, um das Rückstoßprinzip von Mondraketen zu erklären. Doch womit vergleicht man ein Elektron, das sich um den Atomkern bewegt? Mit einem Planeten und seiner Bahn um die Sonne? Das ist auch nicht besonders alltagsnah, und außerdem eben nur teilweise richtig. Jeder Vergleich von Quantenphänomenen mit Alltagsereignissen muss ganz zwangsläufig hinken.
Philosophischer Ärger mit der Messung
Dazu kommt noch ein weiteres Problem: In der Quantenphysik spielt die Messung eine verwirrende Rolle. Den Mond kann ich problemlos beobachten, ohne ihn zu beeinflussen. Eine Messung an einem Quantensystem hingegen ist immer ein Eingriff, der den Zustand des Quantensystems drastisch verändern kann.
Ein Elektron kann sich gleichzeitig hier und dort befinden, in einem Überlagerungszustand aus unterschiedlichen Aufenthaltsorten. Wenn ich in einer Messung nun seinen Aufenthaltsort ermittle, bekomme ich aber immer eine eindeutige Antwort - es ist entweder hier oder dort, aber man wird es niemals an mehreren Orten gleichzeitig messen. Die Messung zerstört den Überlagerungszustand und zwingt das Elektron, sich spontan und zufällig auf einen bestimmten Aufenthaltsort festzulegen. Das klingt verwirrend und ungewohnt, ist aber eine klare Konsequenz der mathematisch formulierten Naturgesetze.
Diese Einwirkung der Messung auf das gemessene Quantenobjekt führte zu einem weitverbreiteten philosophischen Missverständnis: Wenn die Beobachtung den Zustand erst festlegt - so spekulierten eifrige New-Age-Philosophen - bedeutet das dann, dass unser Bewusstsein den Zustand der Welt erzeugt? Sind wir als menschliche Beobachter die Schöpfer der quantenphysikalischen Wirklichkeit?
Das mag ein unterhaltsamer Gedanke sein, der wohliges konstruktivistisches Bauchkribbeln auslöst, aber er ist falsch. Auch wenn das bis heute in esoterischen und populärwissenschaftlichen Büchern behauptet wird, hat das menschliche Bewusstsein mit der Quantenrealität nichts zu tun. Eine Quantenmessung braucht keine Menschen. Dem Quantensystem ist es völlig egal, ob es durch einen bewusst erkennenden Menschen beobachtet wird, durch einen Roboter oder durch ein paar tausend Argon-Atome. Der Zustand eines Quantensystems wird festgelegt, wenn es in Kontakt mit der Umwelt kommt - das genügt, ganz ohne Bewusstsein, Mystik und Esoterik.
Die Quantentheorie ist sicher eine der faszinierendsten Theorien, die es in der Naturwissenschaft gibt. Sie ist ähnlich aufregend wie eine Reise in ferne, unbekannte Länder. Um sie richtig zu verstehen, muss man ihre Sprache lernen, sich auf ihre inneren Regeln einlassen und ihren Formalismus verstehen. Mit den Begriffen unserer gewohnten Alltagswelt alleine ist sie nicht zu ergründen. Doch das ist keine Ausrede, die Quantentheorie mit unwissenschaftlicher Esoterik in Verbindung zu bringen.