"Digitale Editionen retten das kulturelle Erbe"
Die rasante Digitalisierung prägt nicht nur unseren Alltag, sie hat auch längst alle Wissenschaften erfasst. So auch die Kultur- und Geisteswissenschaften, die 'Humanities'. Pioniere wie die Computerlinguistik wurden Ende der 1980er noch belächelt. Doch wer kann sich heute noch vorstellen, mit Zettelkästen statt mit Datenbanken zu arbeiten? Auch in den Editionswissenschaften, die es von Haus aus mit großen (Text-)Datenmengen zu tun haben, schien der 'Personal Computer' schon recht früh das Mittel der Wahl. Aber die Software, nun ja ... Unvergesslich ist die CD-ROM mit Transkriptionen der 12.000 Nachlassmanuskripte Robert Musils, die 1992 erschien. Automatisiert suchen und finden, Querverbindungen entdecken, die in Musils rhizomatischem Schreiben angelegt sind! Allerdings zu 1.400 DM (700€) und unter MS-DOS, sehr beschwerlich. Und schon wenig später nicht mehr lesbar. Ein UNESCO-Weltdokumentenerbe als digitaler Müll? Eine Sackgasse?
Mit Sackgassen kennen sich die Wissenschaften aus, alle. Sie definieren sich ja dadurch, neues Wissen, Denken, Handeln zu generieren - und das entsteht erst, wenn Sackgassen erkannt und funktionierende Wege gefunden werden. So auch die 'Digital Humanities'. Sie leisten inzwischen weit mehr, als Daten, die früher in Buch- und Papierform vorlagen, aufzuarbeiten und elektronisch zur Verfügung zu stellen. Vielmehr werden digitale Ressourcen mit computergestützten Verfahren bearbeitet, was zu neuen Methoden, neuen Forschungsfragen und neuen Antworten führt. Ein Beispiel: Computergestützte Verfahren erlauben ein 'distant reading', bei dem riesige Textmengen, die unsere Lesekapazität bei Weitem übersteigen, quantitativ und statistisch durchsucht und analysiert werden. So rücken Textstellen in den Blick, die vorher übersehen wurden, die nun mit traditionellem 'close reading' im Detail analysiert werden können und völlig neue Perspektiven eröffnen. Oder wussten Sie, dass in Musils Texten kein Tier so häufig auftaucht wie das Pferd und dass es systematisch mit dem Übergang ins technische Zeitalter verbunden ist, in dem die Symbiose Mensch-Tier von der problematischen Symbiose Mensch-Technik abgelöst wird - heute aktueller denn je?
Das Zukunftsträchtige der Digital Humanities ist, dass sie zwangsläufig interdisziplinär handeln müssen: Sie befinden sich an der Schnittstelle zwischen Kultur- und Geisteswissenschaften und den modernen Informationstechnologien. Wenn zwei zusammenkommen und gut kooperieren, entsteht ein Drittes, Neues. Ein Kernbereich sind die digitale Edition und die Hybrid-Edition. Letztere verbindet das Buch mit dem Internet. Editionen haben eine jahrhundertealte Tradition, sie sind wesentliche Retterinnen des kulturellen Erbes der Menschheit. Nur fragmentarisch oder in mehreren Versionen überlieferte Texte 'retten' sie in eine verlässliche Version - und machen sie so überhaupt erst einer größeren Leserschaft zugänglich. Dauerhaft. So entsteht kulturelles Gedächtnis. Doch seit dem 19. Jahrhundert wurden die Editionen immer größer, immer zeit-, geld- und personenaufwändiger - und am Ende nur noch von Bibliotheken bezahlbar. Viele Editionen sind heute ein Friedhof, weil sie nur noch selten Benutzer*innen finden. Um diese aber geht es - also um uns alle und um unser kulturelles Gedächtnis. Denn Ungelesenes ist tot.
Große Hoffnungen verbinden sich daher mit den digitalen Editionen und den Hybrid-Editionen. Sie machen es möglich, den kleinen Expert*innenkreis zu überschreiten und allen Interessierten die Originale als vergrößerbare Digitalisate anzubieten, mit Transkription, mit Kommentaren - und zwar im Internet. Freier Zugang, von überall auf der Welt, für null Euro. So übrigens inzwischen auch Musils Nachlass: kein digitaler Müll, sondern zu finden unter www.musilonline.at und demnächst auf der Editionsplattform der Österreichischen Nationalbibliothek. Ja, digital ist möglich, was das zweidimensionale Buch nicht schaffen kann: die dritte Dimension darzustellen, nämlich die Genese von Texten und die Prozesse des Schreibens. Aufwändige Visualisierungen helfen Interessierten einzusteigen in - zum Beispiel - Goethes lebenslange Arbeit am Faust. Wussten Sie, dass die Gretchengeschichte der Nukleus ist, dass das Religiöse und Magische gemeinsam und in Konkurrenz später hinzukamen - von Gretchens avisierter Erlösung bis zu Fausts Verjüngung und der Walpurgisnacht? Dass die Rahmenhandlung - die Wette zwischen Gott und Mephistopheles - noch später dazukam und das gesamte Drama als bloßes 'Spiel' ausstellt? Das veranschaulicht die digitale Faust-Edition von 2018. Es gäbe hier so viele tolle Beispiele zu nennen zu Samuel Beckett, Ludwig van Beethoven, Peter Handke, Ödön von Horváth, James Joyce, Karl Kraus, Friedrich Nietzsche, Andreas Okopenko, Fernando Pessoa, Arthur Schnitzler, Henry Thoreau, Mark Twain, Paul Valéry ...
Wie ist die Situation in Österreich? 2017 bewilligte das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung das Kompetenznetzwerk Digitale Edition (KONDE), an dem sich alle Universitäten Österreichs, die Österreichische Nationalbibliothek und die Akademie der Wissenschaften beteiligten. Die Vernetzung ist geglückt, in kurzer Zeit. Man tauscht Tools und best practices aus, knüpft oder vertieft Kooperationen für ein Projekt, entwirft gemeinsame Standards und Empfehlungen ... Doch 2020 endet die Finanzierung. Strukturen entstehen so nicht.
Inzwischen hat das Ministerium erkannt, dass die digitale Edition und die Hybrid-Edition, ja dass die Digital Humanities überhaupt ein machtvolles Potenzial für die gesamte österreichische Forschungslandschaft und für das kulturelle Gedächtnis haben. Entstanden durch die Zusammenarbeit engagierter Forscher*innen sind die Digital Humanities Austria im Aufstieg. Sie sind europäisch gut vernetzt und verstetigen sich gerade im Netzwerk CLARIAH-AT.
Was fehlt? Wie immer: Geld und Personal. Wenn Österreich als Kulturnation nicht nur ein Lippenbekenntnis sein soll, dann bedarf es dringend enger und finanzierter Kooperationen zwischen universitären und außeruniversitären Forschungseinheiten mit Gedächtnisinstitutionen wie Bibliotheken, Archiven, Museen - die selbst längst Teil der Digital Humanities sind. Dringend zu vertiefen ist die interdisziplinäre Vernetzung zwischen Kultur- und Geisteswissenschaften und Informatik: Es braucht entsprechende Doppelausbildungen für Studierende und den akademischen Nachwuchs. Erste Master-Studien laufen in Graz, Wien und Krems, doch das kann nur ein Anfang sein.
Die Digital Humanities sind ein Schlüsselbereich, der jungen Menschen eine vielversprechende berufliche und/oder wissenschaftliche Zukunftsperspektive bietet. Und weil die Digital Humanities ihre Angebote nutzerfreundlich und barrierefrei der Gesellschaft zur Verfügung stellen, ja zur Interaktion einladen, tragen sie zu einer Demokratisierung des Wissens bei.