Digital Geschichte(n) erzählen
Die digitale Technik hat auch verändert, wie Geschichte erforscht, vermittelt und erzählt wird. Wie ein noch in der "vordigitalen Zeit" sozialisierter Historiker gegenüber APA-Science anmerkt, gehört die Nutzung der digitalen Welt bereits zum alltäglichen Handwerk eines Geschichtswissenschafters: "Natürlich ist das von großer Bedeutung. Die Angebote digitaler Quellen beschleunigen das Tempo der Recherchen ungemein (z.B. in Geburts-, Tauf-, Heirats-, Sterbematriken usw.)."
Intensiv setzt man sich mit der Materie am Ludwig Boltzmann Institute for Digital History (LBIDH) auseinander. Zur Diskussion, ob nun Digital History eine eigene Disziplin ist oder sein sollte, meint LBIDH-Leiter Ingo Zechner, "dass es wohl noch keine eigene ist und möglicherweise nie eine wird". Damit unterscheide sich die digitale Geschichtswissenschaft aber auch nicht von anderen "Querschnittsmaterien".
"Culture Studies oder auch Gender Studies hatten in den vergangenen Jahren Konjunktur. Das Verbindende war und ist, dass sie quer durch die verschiedensten Disziplinen verlaufen. Das gilt nun auch für die Digital Humanities", so Zechner gegenüber APA-Science. Culture Studies zum Beispiel hätten sich aus einer Nische heraus mehr oder weniger zu einem "Label" hin entwickelt, das man dem umhängt, das man früher unter Geisteswissenschaften zusammengefasst habe. Im akademischen Feld gebe es immer wieder derartige Transformationen, deren Erfolg sich nicht daran messen lasse, ob sie zu einer Disziplin werden oder nicht.
Für Zechner sind die Digital Humanities trotzdem mehr als nur eine Methode oder ein Tool-Set. Was Digital Humanities zusammengefasst ausmache, sei die Entwicklung und Implementierung von digitalen Technologien in den Geistes- und Kulturwissenschaften.
Drei Ebenen
Das habe einen Impakt auf verschiedenen Ebenen: methodisch, organisatorisch und inhaltlich. Methodisch ändern sich zum Beispiel durch die Verwendung digitaler Techniken die Analysemöglichkeiten. Organisatorisch werden neue Zusammenarbeitsformen geschaffen. Die Einzelforschung, die gerade für die Geisteswissenschaft über lange Zeit prägend war, wird laut Zechner durch Kollaboration und interdisziplinäres Teamwork abgelöst.
Auf der inhaltlichen Ebene wiederum wird Wissen und Information zugänglich, welches davor exklusiv war. Zechner verweist diesbezüglich auf klassische Lexika und Dokumentensammlungen, die zusehends durch elektronische Ressourcen ersetzt werden, was eine andere Art der Zugänglichkeit schafft: "All diese Veränderungen sind mehr als lediglich ein Wechsel der Methoden. Das ist ein grundlegender Transformationsprozess in der Produktion und Distribution von Wissen, der hier stattfindet."
Abfragenerweiterungen
"Zentral für die Kulturwissenschaften ist die Tradition der Erschließung von Wissen über Text- und Archivbestände. Das ist ein rigoroses System, das seit dem 19. Jahrhundert über die Ausbildung in eigenen Institutionen bis zur Verschlagwortung, die in Thesauri zusammengefasst und auch angewendet werden, entwickelt worden ist. Das antizipiert wohl die digitalen Möglichkeiten, schöpft sie aber nicht annähernd aus. Was in der digitalen Welt machbar ist, geht weit über die klassische Verschlagwortung hinaus. Ein einfaches Beispiel: Jedes in einem Text vorkommende Wort kann digital indiziert werden, analog würde das keinen Sinn machen. Noch raffinierter wird es beim Text-Mining, womit tatsächlich nach Konzepten gesucht werden kann, etwa durch word clouds, die die Nähe von Begriffen zueinander oder Häufigkeiten nutzen. Damit antizipiert die Technik praktisch menschliche Suchabfragen", umreißt Zechner kurz die Möglichkeiten digitaler Recherchen.
Das hebe menschliche Limitierungen auf. Als einzelner Historiker könne man durch die beschränkte Arbeitskraft in Archiven, Bibliotheken, Dokumentationen nur eine gewisse Anzahl an Quellen sichten und verwenden. Das führe oft dazu, dass die gewählten Beispiele verallgemeinert würden. Durch die zunehmende Zahl an digitalen Beständen gebe es nun die Möglichkeit, Annahmen in weit größeren Sets zu bestätigen – oder eben nicht. Außerdem erlaube es, einfacher in Teams zu arbeiten und Methoden gemeinsam erleichtert anzuwenden. Das zeige ein weiteres Mal den "radikalen Transformationsprozess".
Auf die Frage, wie weit die historischen Wissenschaften digitalisiert werden können, meint der LBIDH-Leiter, dass es verschiedene Grade der Digitalisierung gebe. Die klassische Geschichtswissenschaft werde nicht aussterben, denn "es ist eine Utopie, dass sämtliche textlichen Bestände digitalisiert verfügbar sein werden". Aber schon allein die Erstellung von elektronischen Indizes und Verzeichnissen stelle eine massive Erleichterung der Arbeit des Historikers dar.
Veränderte Arbeitsweisen
"In den vergangenen 30 Jahren wurde zum Beispiel eine Riesenmenge an Audio- und Video-Interviews mit Holocaust-Überlebenden geführt. Viele davon dauern mehrere Stunden, eine Herausforderung für die Digitalisierung. Eine Transkription für eine detaillierte Textanalyse füllt dann schnell 60 Seiten, was aufwendig und kostspielig ist. Die Arbeiten an einer automatischen Transkription (speech-to-text) plus Übersetzung sind noch weit weg von Perfektion und mit Tücken versehen. Aber sie verändern die Möglichkeiten, die man in der Forschung hat, ganz radikal", erklärt Zechner. Ab dem Moment nämlich, wo es funktioniere, und sei es nur auf der Ebene, dass man die Interviews indizieren könne, erschließe das tausende Gespräche, wo man sonst für Projekte nur ein kleines Sample hätte bearbeiten können. "Die Datenbasis wird enorm verbreitert, was ganz andere Formen der Kritik zulässt. Es macht einen Unterschied, ob 20 oder 1.000 Interviews, Dokumente oder ganze Akten zugänglich sind", so Zechner.
Die Digitalisierung habe auch die Darstellungsformen von Geschichte und das "Geschichte erzählen" verändert. Klassisch werde Geschichte tendenziell linear erzählt. Die Linearität zu brechen (z.B. durch Kapitelstrukturen, die inhaltlich ausgerichtet sind) sei analog eine komplexe, meist schwer zu fassende Art der Darstellung. Durch die computergestützten Möglichkeiten werde die Visualisierung von Gleichzeitigkeit (Time-Lines, interaktive Landkarten etc.) vereinfacht und leichter zugänglich gemacht. Zusammenhänge erschließen sich komplett anders als in klassischen Texterzählungen. "Die statische Darstellung (etwa in historischen Atlanten) wird digital durch dynamische Features (Einbettung von Kommentaren, Zeitdokumenten, Texten von Zeitgenossen usw.) aufgewertet, gewinnt an Tiefe und Dichte. So ist es möglich, das ausgewählte Dokument neben viele andere aus der gleichen Periode zu stellen. Das ändert die Zugänglichkeit, der Nutzer ist nicht mehr nur mehr auf das angewiesen, was im Text angeboten wird. Das ist ein Demokratisierungsprozess des Wissens und der Information. Der User bekommt Mittel an die Hand, zu prüfen, was ihm geboten wird, wie plausibel die Beispiele sind", erzählt der Forscher.
Überforderung
Die zunehmende Fülle an Daten und Informationen kann natürlich überfordernd sein. Das werfe auf einer neuen Ebene die Frage nach kuratorischer Arbeit auf. Wie in Museen mit ihren Depots, Archiven und Dokumentationen gehe es darum, was wird sichtbar gemacht, mit welchen Zusatzinformationen und Verknüpfungen. So könnten künftig ganze museale Bestände computergestützt verfügbar sein. Dann bestehe das Kuratorische nicht mehr im, "Was wird sichtbar gemacht", sondern im "Wie wird es dargeboten".
Die Kunst besteht für Zechner darin, die Fülle für verschiedene Interessensebenen aufzubereiten. "Da braucht es dann schon einmal ein eine doppelte Kuratierung", erläutert der Wissenschafter weiter: "Einerseits, das schnell sichtbar machen, was für jene relevant ist, die einen schnellen Überblick wollen, andererseits Optionen anbieten für diejenigen, die tiefer, professioneller in die Materie hinein möchten." Diese Hierarchierung müsse aber ständig transparent bleiben, damit der gleichzeitig stattfindende Demokratisierungsprozess nicht "sofort wieder kassiert wird". "Der Nutzer muss das Gefühl haben, mir wird nichts vorenthalten. Wenn ich will, kann ich mich auf verschiedenen Ebenen bewegen", erklärt Zechner. Um das zu ermöglichen, brauche es Kollaboration, die Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen, um zum Beispiel verschiedene Interfaces zu schaffen, damit Nutzer je nach Interesse unterschiedlich an die großen Datenmengen herantreten können, verweist Zechner wiederum auf den Transformationsprozess auf der organisatorischen Ebene (siehe auch: Forschungsprojekt bereitet Holocaust-Filmdokumente digital auf)
Bei alldem sollte die ethische Ebene nicht übersehen werden: "Was wird zum Beispiel wie zugänglich gemacht, wenn zwischen öffentlichem Interesse und Persönlichkeitsschutz abgewogen werden muss." Das ist laut Zechner eine Herausforderung, die sich durch die Fülle der computergestützten Daten intensivieren wird.
Augmented Reality
Eine Technologie, die bei der Darstellung und Vermittlung von Geschichte und Geschichten, vermehrt eingesetzt wird, ist "Augmented Reality" (AR). "AR hat das Potenzial, eine Mainstream-Technologie zu werden", erklärt Edith Blaschitz von der Donau-Universität Krems, Stabsbereich Digital Memory Studies. Das sei schon Anfang der 2000er-Jahre in ersten Artikeln propagiert worden. Gescheitert sei es damals noch an der technischen Machbarkeit und Umsetzung. In den vergangenen Jahren habe nun der tatsächliche Boom eingesetzt, Vermittlungskonzepte, die AR nutzen, gewinnen an Zahl und Bedeutung.
AR biete zum Beispiel die Möglichkeit, sich Wissen explorativ anzueignen. So brauche man etwa keine Guides mehr in Ausstellungen oder Museen. Digitale Devices übernehmen diese Funktion und man bestimmt selbst, womit man sich näher auseinandersetzen möchte.
"Für Zeithistoriker wiederum stellt sich vermehrt die Frage, welche Mittel stehen zur Verfügung, die einen emotionalen Zugang zu historischen Ereignissen ermöglichen. Da ist jetzt der authentische, historische Ort stark in den Fokus gerückt. Viele dieser Plätze, Gebäude sind aber nicht mehr vorhanden oder haben sich stark verändert. Da kommen dann die digitalen Medien wie AR ins Spiel", so Blaschitz. Die historische Rekonstruktion mittels technischen Devices schaffe Unmittelbarkeit, man stehe mitten im Geschehen, ein emotionaler Bezug werde hergestellt. "Man spürt eine Bezugnahme in die Vergangenheit. Das ist ganz wichtig. Ich kann mir gut etwas einprägen, wenn es eine Form von emotionaler Verbundenheit gibt", sagt Blaschitz.
Nicht nur der Nutzer profitiere, meint die Historikerin: "Wenn ich seriös digital rekonstruiere, dann muss ich als Historiker eingehende Recherche und Quellenarbeit betreiben. Wie hat ein Gebäude einmal ausgeschaut, gibt es historische Abbildungen, an denen man sich orientieren kann und so weiter? Der Mehrwert für den Forscher selbst liegt also in der Erstellung eines solchen Produktes."
Generationenfrage
AR wird laut Blaschitz unterschiedlich angenommen. "Wenig überraschend stürzt sich das junge Publikum darauf, will damit arbeiten. Ältere muss man da schon an der Hand nehmen und anfänglich Anleitung geben. Sie treten oft auch in Konkurrenz zur digitalen Ebene, besonders wenn es eine persönliche Nähe zum Gezeigten gibt. Da heißt es dann auch schon einmal von Zeitzeuginnen: 'Legen sie doch den Laptop weg. Ich erzähle ihnen jetzt, wie es war'", so Blaschitz. Genau das findet sie spannend: "Das ist ein partizipativer Prozess. Auch das Publikum kann sein Wissen einbringen." Die mittels AR gezeigten Bilder seien oftmals vor allem für Zeitzeuginnen Anlass für eigene Geschichten, die nicht selten divergent, manchmal auch kontrovers ausfallen. AR löst etwas aus, so Blaschitz, das sonst so "nicht gekommen wäre". Das sei ein Mehrwert, wenn solche emotionalen Bezugspunkte geschaffen werden. "Das ist auch für den Wissenschafter spannend. Wo gibt es Brüche und welche? Denn, nicht immer stimmt die technologische Ebene mit der menschlichen Ebene überein", erläutert Blaschitz.
Die Darstellung und Vermittlung von Geschichte und von Wissen im Allgemeinen dürfe auch Spaß machen. Das könne besonders mit digitalen Features erreicht werden, wie Serious Games zeigen, wo Spielelemente mit Wissen und Information verwoben werden. Das habe auch etwas Lustvolles und müsse nicht nur die hehren Bildungsziele adressieren, so Blaschitz.
Geschichten erzählen
Wie der Name schon sagt, ist das "Geschichten erzählen" das zentrale Motiv der Geschichtswissenschaft. Es trägt seit jeher zur Konstitution von Gesellschaften, ihrer Identität und ihrem kulturellen Erbe bei. Mittels Digital Storytelling können Personen ermutigt werden, selbst und unabhängig ihre Perspektive auf Geschichte und Geschichten festzuhalten. Das verfolgt auch das von der EU in Rahmen des AAL-Programme (Active Assisted Living Programme) konsortial initiierte, dreijährige Projekt "Hi-Story – Make your History", an dem das AIT Center for Technology Experience maßgeblich beteiligt ist.
AAL habe hauptsächlich die Verbesserung der Lebensqualität und des Wohlbefindens von älteren Menschen zum Ziel. Im konkreten Fall gehe es darum, soziale Isolation zu verhindern oder zu durchbrechen, erklärt Stephanie Schwarz, Projektleiterin beim AIT Center for Technology Experience. Die Gesamtprojektleitung für Österreich liegt bei dem Unternehmen NOUS Wissensmanagement.
Einerseits wolle man bei Hi-Story persönliche Geschichten und individuelle Perspektiven von Geschichte sichtbar machen, andererseits soziale Inklusion durch verschiedene Interaktionen von Gruppen älterer Personen durch das "Erzählen" anschieben. "Das kann etwa durch Erzähl- und Gesprächskreise, Diskussionsgruppen, Nachbarschaftsinitiativen usw., in deren Rahmen das Storytelling stattfindet, passieren", erläutert Schwarz weiter.
Eine App werde dabei das einfache Festhalten, Bearbeiten und Editieren der Geschichten in Text, Bild oder Audio im Einzelgespräch aber auch in Gruppen ermöglichen. Die Erzählungen können letztlich mit unterschiedlichen Materialien unterlegt werden. Neben der kreativen Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie sollen digitale Methoden die Möglichkeit bieten, biografisch-historisches Wissen zur Weiterverwendung für unterschiedliche Interessensebenen zu erhalten. Die Verbreitung der Geschichten ist daher mittels eines Online-Tools für unterschiedliche Kontexte und Verwertungsmöglichkeiten konzipiert – zum Beispiel zur Anreicherung von Ausstellungen. Diesbezüglich wird laut Schwarz mit dem Wien Museum kooperiert.
Wichtig für die Projektarbeit, für das Design der digitalen Aufbereitung ist laut Schwarz, dass das System sowohl auf die Bedürfnisse der älteren Menschen in Bezug auf die Weiterverwendung ihrer persönlichen Geschichten (z.B. Eigentum, Deutungsmacht, Privatsphäre, Modifikationen, Verknüpfungen usw.) als auch die Anforderungen etwaiger Bedarfsträger wie Kultureinrichtungen (z.B. aktive Einordnung in einen historischen Kontext, Überprüfbarkeit von Angaben usw.) ausgerichtet ist. Die Geschichtenerzähler sollen Entscheidungsfreiheit haben: "Das Erzählte gehört ständig mir, ich kann frei darüber entscheiden, was damit passiert oder nicht", fasst Schwarz zusammen. Das müsse den Projektteilnehmern über den ganzen Prozess hinweg klar sein. "Wir versuchen vor allem in Interviews herauszufinden, wie diese Freiheit gewährleistet sein muss", so Schwarz. Gezeigt habe sich bisher, dass es sowohl auf die Themen als auch die individuelle Geschichte des Einzelnen ankomme, wie sensibel mit den Inhalten umgegangen werden müsse. Das schlage sich schließlich in der "Intensität der Informiertheit" nieder.
Im April 2020 startet laut Schwarz der erste Feldtest, der mehrere Monate dauern wird, mit drei Sessions mit Interviews, Befragungen und auch Hausaufgaben zu gewissen Themen, wobei zuerst individuelle Ursprungs- und in Folge Gemeinschaftsgeschichten entstehen sollen. "Wir legen besonderen Wert auf Diversität damit die unterschiedlichsten Sichtweisen ihren Platz bekommen", so Schwarz. Das sei auch eine Herausforderung, die verschiedenen Menschen mit ihrem ganz individuellen Blick auf die Geschichte zusammenzubringen und zu moderieren – und das alles mit digitalen Mitteln.
Von Hermann Mörwald / APA-Science