Bildorientierte Digital Humanities: 2005 bis heute
Als Erweiterung der Kunstgeschichte auf viele Bildformen wurden 2005 die Bildwissenschaften in Österreich mit ihrem ersten Lehrstuhl im deutschen Sprachraum institutionalisiert. Mit Online-Bild- und Textarchiven sind sie seit ihrer Gründung per Definition Digitale Geisteswissenschaft, seit 2007 wurde unter dem damals neuen Label Digital Humanities publiziert. Natürlich stehen wir in dieser Zeit der Bildrevolution, in der mittlerweile diskutiert wird, ob Bilder im Weltverständnis die Worte übertreffen, enormen Herausforderungen gegenüber. Virtual Reality, Social Media, Medienkunst, neue Bildwelten in Wissenschaft und visuelle Formate in der Politik fordern für ihre Erforschung und Kritik neue DH-Instrumente. Um hierzu beizutragen, haben wir in Österreich seit 2005 und in Berlin bereits zuvor, neue Online-Videoarchive, Analyseinstrumente, DH-Studiengänge und eine Weltkonferenz inszeniert, die alle zwei Jahre auf einem anderen Kontinent stattfindet. Unsere DH-Forschung ist insbesondere im Art & Digital HumanitiesLAB zusammengefast, welches auf das seit 2002 bestehende DigiLab der Donau-Universität zurückgeht.
Methodisch verbinden wir hierfür Kunst- und Medienwissenschaft, Technik-Wissenschaftsgeschichte im historischen Vergleich. Über mehrere Jahre haben wir für unsere Archive einen Brückenthesaurus erarbeitet, der einerseits Kontinuitäten, das Nachleben der Kunst- und Bildgeschichte aufzeigt, aber auch Transformationen und Brüche präzise herauskristallisiert, die dann aktuelle Weltthemen wie Klima, Überwachung, Migration, Medien- und Bildrevolution bewirkt werden.
Virtual Reality bietet heute sicher enormes Potenzial für Kunst, Entertainment oder Architektur, doch müssen wir zugleich sehen, dass die großen Datenmonopole, Facebook, Google, Amazon oder die chinesischen Konzerne, massive Investitionen für ganz andere Zielsetzungen vornehmen. Zuckerberg, der sowohl mit der NSA als auch Cambridge Analytica kooperiert, plant zwei Mrd. FB-Nutzer unter Datenbrillen in Erlebniswelten zu versetzen. Dies liest sich wie eine Dystopie, so dass man sich der Warnung der Washington Post anschließen kann: "Derjenige, der die Virtuellen Welten kontrolliert, kontrolliert auch deren Nutzer" und der ist dann "nur mehr einen Schritt davon entfernt, die Realität zu kontrollieren." Als geisteswissenschaftliches Korrektiv haben wir Virtual Reality, die Geschichte der Immersion von VR über IMAX, Cineorama, Panoramen und 360°-Fresken bis in die Antike zurückverfolgt. Immersion, das Eintauchen in die Illusion, durchzieht nahezu die gesamte Bildgeschichte. Mit dem Maximum an verfügbarer Illusionstechnik wurden immer wieder immersive Bilderfahrungen geschaffen, um die Zeitgenossen in den Bann zu schlagen. Oft diente die Suggestionspolitik den Interessen von Kirche, Politik und anderen Mächtigen. Für die Analyse heutiger Bildstrategien können wir mithin viel aus der Geschichte ableiten.
Die digitale Bilderflut macht uns klüger und dümmer zugleich: Wir müssen lernen, aus unerschöpflichen Bildinformationen Qualität zu filtern und Kompetenz vermitteln, für den kritischen Umgang mit schnellen, interaktiven, emotionalen Bildwelten. Heute, in der digitalen Bildrevolution brauchen wir neben den tradierten Kulturtechniken - Lesen, Schreiben, Rechnen - zunehmend den geübten Umgang mit den oft suggestiven Bildwelten, das passive Bildverstehen und aktive Visualisieren. Ansonsten werden wir für Manipulation vielleicht noch anfälliger als in der Vergangenheit. Einer "Schule des Sehens" geht es daher nicht nur um die hohe Kunst, sondern schlechthin um aufgeklärten Umgang mit Bildern. "Bildkompetenz"ist mithin die Fähigkeit, aktuelle und historische Bildmedien kritisch wahrzunehmen, zu nutzen, historisch zu vergleichen und inhaltlich einzuordnen, möglichst ohne sich überwältigen zu lassen.
Herausforderungen
Neben der Weiterentwicklung der Lehre stehen wir bei den bildorientierten Digital Humanities heute vor allem vor zwei weiteren infrastrukturellen Herausforderungen: Bekanntlich haben die Naturwissenschaften durch internationale Forschungsinfrastrukturen einen großen Sprung gemacht. Die moderne Astronomie etwa wurde erst durch nachhaltig finanzierte gemeinsame Infrastrukturen zur Erforschung der gewaltigen Datenmengen vernetzter Observatorien möglich, das legendäre Human Genome Project erreichte sein Ziel der Entschlüsselung des Erbguts viel schneller als erwartet durch Kollektivarbeit. Vor dem Hintergrund der Bild- und Medienrevolution müssen daher auch die Digitalen Geisteswissenschaften die Schlüsselfragen neu definieren und mit einer Kombination aus quantitativen und qualitativen Verfahren und neuen Visualisierungsformen angehen. Vielleicht gelangen wir so, auf der Basis und in Kombination zahlloser Bild- und Textquellen, zu einem neuen Verständnis des Verhältnis Mensch-Bild in verschiedenen Zeitabschnitten, verschiedenen Kulturen, ihren jeweiligen Medien, den individuellen und kollektiven Dispositionen der Nutzer der immer komplexer werdenden Bildwelten. Berühmte Kulturwissenschaftler des letzten Jahrhunderts wie Aby Warburg, André Malraux und Alfred H. Baar haben mit ihren Möglichkeiten bedeutende Vorarbeit geleistet. Heute könnten international-nachhaltige, ungekannte Strukturen den bildorientierten Digital Humanities für unsere Gesellschaften Antworten auf bislang unlösbare Fragen und Probleme ermöglichen, die frühere Jahrhunderte erst ansatzweise erahnten.
Große, die Geisteswissenschaften der Gegenwart prägende Themen, wie Klima, Biorevolution, Migration, Überwachung werden heute vor allem in der digitalen Kunst verhandelt. Dies liegt vor allem an ihrem Visualisierungspotenzial, das oft 3D, Interaktion, vernetzte und datenbankbasierte Bildwelten einsetzt und verschiedene Sinne anspricht, mithin die Komplexität unserer Zeit besser abbildet. Umso problematischer ist es, dass die Gegenwartskunst zwar mittlerweile auf über 200 Biennalen vertreten ist und über 100 ihr eigens gewidmete Festivals zählt, wie die Ars Electronica, auf allen Kontinenten, doch immer noch sind tausende weltweit ausgestellte Werke in kaum einer öffentlichen Museumssammlung nachweisbar und somit auch die aktuellen Themen weitgehend ausgesperrt. In Gesellschaften, deren Kunstsystem weitgehend steuerfinanziert ist, wie in Europa, stehen wir mithin zugleich vor einem demokratiepolitischen Problem.
Faustregel ist: Werke, die älter als 10 Jahre sind, können aufgrund des Wandels der Speichermedien nicht mehr gezeigt werden. Wir beklagen daher einen flächendeckenden Verlust, ein schwarzes Loch der digitalen Gegenwartskunst, von mittlerweile 3-4 Dekaden – eine unabsichtliche Tabula Rasa, die selbst Bilderstürme der Vergangenheit in den Schatten stellt. Gleichzeitig liegen die nötigen Fallstudien für die Erhaltung eigentlich alle vor, es geht mithin heute eher um abgestimmte Anwendung. Wir arbeiten daher an der Frage, wie sich unsere Museums-, Archiv- und Bibliothekslandschaft wandeln muss, um ihrer Aufgabe auch in der sich rasch wandelnden digitalen Gegenwart gerecht zu werden. Aufgrund der Komplexität der verantwortungsvollen Aufgabe muss eine konzertierte Sammlungspolitik über der Ebene von Einzelhäusern ansetzen. Mit der Deutschen Nationalbibliothek und wichtigen Stakeholdern aus Wissenschaft, Kunst, Kulturpolitik entwickeln wir Pläne für ein konzertiertes "Museumsnetz Digitale Kunst", für Sammlung, Erhaltung und Erforschung. Eben wurde in Frankfurt eine Erklärung an die politisch Verantwortlichen verabschiedet, die bereits von kooperierenden Playern in Österreich und der Schweiz unterzeichnet wurde.
Ausstehend ist hierfür eine nationale, koordinierte Strategie zur Langzeiterhaltung, in der wichtige Stakeholder involviert sind. Informiert wird die Wissenschaft über das heute international umfassendste Dokumentationsarchiv der Digitalen Kunst www.digitalartarchive.at, dass 1999 an der Humboldt-Universität begonnen wurde und seit 2005 in Krems stetig erweitert wird. Kunsthochschulen und Museen finden neben Informationen zur Erhaltung (Hard- und Softwarekonfigurationen, Interfaceerfindungen etc.) insbesondere die Verbindungen zwischen Medienkunst und Kunstgeschichte. Für die Erweiterung der Infrastruktur haben wir soeben 1,2 Mio. Euro vom Bundesministerium erhalten, neuartige begehbare Zugänge zum "lebendigen Archiv" werden durch renommierte Künstler der Angewandten und der Linzer Kunstuniversität entwickelt.