Für jeden eine Nische
Pia Harmer hat in ihrer Karriere als Lehrerin wenig ausgelassen. Von einer Neuen Mittelschule über eine Handelsakademie bis hin zu einem katholischen Privatgymnasium hat die Chemie- und Englisch-Professorin an den unterschiedlichsten Schultypen des sekundären Bildungsbereiches unterrichtet. Mit APA-Science hat sie darüber geredet, warum sie das österreichische Bildungssystem schätzt, und warum es sie immer wieder zur selben Schule zieht.
Begonnen hat alles am BG Stockerau, wo Harmer als Teenagerin zur Schule gegangen ist. "Ich habe in Stockerau maturiert und diesen Standort immer als wahnsinnig positiv empfunden", erklärt sie. "Und ich sehe das heute noch so." Harmer muss es wissen, denn sie kann in ihrem Lebenslauf auf gesammelte Erfahrungen an so einigen Schultypen verweisen. Zunächst studierte sie Chemie auf Diplom, stellte aber rasch fest, dass ihr die Arbeit mit Menschen in der rein naturwissenschaftlichen Arbeit fehlte. Stattdessen entschied sie sich für eine Karriere im Bildungsbereich.
Während und nach ihres Lehramtsstudiums war Harmer als Englischprofessorin an der Handelsakademie im niederösterreichischen Hollabrunn tätig. Nebenbei unterrichtete sie sowohl ein Jahr lang am benachbarten erzbischöflichen Gymnasium, als auch an einer NMS, und arbeitete drei Jahre lang an der Entwicklung der Zentralmatura für Englisch mit. Nach einer Karenzzeit zog es sie schließlich nach Stockerau zurück, wo sie seit 2015 an dem Gymnasium tätig ist, in dem sie selbst zur Schule ging.
Das Gymnasium ist mit fast 1.000 Schülern nicht gerade klein - aber gerade das mache es zu einem wünschenswerten Arbeitsplatz, so Harmer. "Man hat als Lehrerkraft viele Möglichkeiten und kann den Schülerinnen und Schülern auch so viel bieten", betont sie. Durch den Kontakt mit einer derart großen Anzahl an Lehrpersonen und Schülern finde man immer jemanden, mit dem man sich gut verstehe und der einen positiv beeinflussen könne. "Jeder kann hier seine Zielgruppe finden. Man lernt im Laufe der Schulkarriere einfach sehr, sehr viele unterschiedliche Menschen kennen."
Für Chemie begeistern
Zu der HAK, an der sie davor unterrichtete, sieht sie viele Unterschiede. "Einerseits war der Schulstandort viel kleiner, andererseits ging es dort statt um Allgemeinbildung mehr um Ausbildung." An den berufsbildenden höheren Schulen gestalte sich dementsprechend auch der Unterricht ganz anders, der Chemieunterricht noch mehr als der Englischunterricht: "Chemie an der HAK ist ganz anders als im Gymnasium, da kommen die Schülerinnen und Schüler mit ganz unterschiedlichem Wissen aus unterschiedlichen Schultypen." Die Fächer Biologie, Chemie und Physik werden dort als ein gemeinsames Fach in den Lehrplänen geführt. Da ohnehin schon weniger Zeit für die Naturwissenschaften bleibt, kommen die Schüler so zumindest über die Jahre hinweg immer wieder mit den verschiedenen Disziplinen in Berührung. Das findet Harmer zwar einen guten Ansatz - an der AHS möchte sie das aber nicht.
Chemie steht an der AHS zum ersten Mal bereits in der vierten Klasse auf dem Stundenplan. "Da kommen die Schüler und haben zu ersten Mal richtig geleiteten Chemieunterricht. Wenn man bereit ist, sich auf sie einzulassen, kann man sie wirklich begeistern. Chemie hat den Ruf, abstrakt zu sein und nichts mit dem Leben zu tun zu haben. Hier hat man die Möglichkeit, ihnen den Nutzen für ihr Leben und den Alltagsbezug zu zeigen, das finde ich sehr schön."
Ihre Liebe zur Chemie und zur Sprache verbindet Harmer ab 1. Oktober im Rahmen ihrer Prae-Doc-Stelle an der Fakultät für Chemie an der Universität Wien, wo sie für ihre Dissertation zu Sprache und Sprachförderung im Zusammenhang mit Fachunterricht forschen will. Ihre Lehrtätigkeit in Stockerau gibt sie währenddessen aber nicht auf, sondern reduziert sie auf zehn Stunden.
Mehr als nur "Wissensvermittler"
Die Aufgabe der Lehrer habe sich seit ihrer eigenen Schulzeit gewandelt, so Harmer. "Unsere Rolle wird immer breiter. Immer mehr Schüler brauchen eine persönliche Betreuung, weil zum Beispiel die Eltern vermehrt berufstätig sind. Vor allem die Kleinen brauchen diese persönliche Betreuung. Wir sind nicht mehr nur Wissensvermittler."
An einem Ort, an dem so viel Menschen eng nebeneinander lernen und leben, brauche es einen respektvollen Umgang miteinander. "Wir haben bei uns an der Schule einen sehr wertschätzenden Umgang", betont Harmer. "Das ist im Schulbereich ein großes Thema, denn es passiert so viel über das, was wir vorleben. Wenn man den Schülern mit Respekt und Toleranz begegnet, begegnen sie einem auch mit Respekt." Ausnahmen gebe es immer, räumt sie ein, aber im Großen und Ganzen funktioniere das Miteinander gut.
Geänderte Anforderungen an Schüler und Eltern
Doch nicht nur die Rolle der Lehrkräfte, auch die der Schüler habe sich verändert. "Es wird viel mehr Selbstständigkeit erwartet, sehr viel mehr an Selbsterarbeitungskompetenzen. Es wird sehr viel mehr auf die Soft Skills geachtet. Sich selber Wissen anzueignen, Quellenkritik, das sind ganz wichtige Fähigkeiten, die wir den Schülerinnen und Schülern mitgeben müssen."
Auch die Anforderungen an die Eltern seien andere als noch vor zwanzig Jahren. Besonders der Umgang mit Neuen Medien und die Tatsache, dass die meisten Jugendlichen jederzeit über Handy und Internetzugang verfügen, stellen Erziehungspersonen vor Herausforderungen. Dies sei aber keine schulbezogene Thematik, sondern ein genereller gesellschaftlicher Wandel, so Harmer, die selbst zweifache Mutter ist.
Damit die Zusammenarbeit von Lehrkräften, Eltern und Schülern funktioniert, involviert sie die Kinder in den Elternsprechtag. "Ich möchte nicht über die Kinder und ihre Leistungen reden, ohne dass sie dabei sind." Und wenn es darum geht, dass ein Kind in einem Fach keine gute Note erbracht hat? "Es geht darum, eine Lösung zu finden, und nicht, auf den Schwächen herumzuhacken. Ich finde es ganz wichtig, dass die Kinder das hören und erfahren, dass sie als Person wertgeschätzt werden, egal ob ihre Leistungen sehr gut oder nicht genügend sind."
Sanfte Kritik, aber nicht am Bildungssystem
Was ihren Arbeitsalltag erschwert, sind folglich nicht die Interaktionen mit anderen Parteien - sehr wohl aber der bürokratische Aufwand, der mit jedem Jahr zunehme. "Für alles und jedes braucht man Unterschriften von Eltern. Das kostet viel Zeit und lenkt von der eigentlichen Schülerarbeit ab. Wenn ich mich von drei Stunden Englisch in der Woche pro Stunde zehn Minuten lang damit beschäftigen muss, ob alle Schularbeiten, Elterninformationen etc. unterschrieben sind, vergeht wahnsinnig viel Zeit." Wie man es verbessern könnte, weiß sie allerdings auch nicht. "Es muss halt mittlerweile bei uns alles nachweisbar sein, und damit ist das die einzige Option."
Nichtsdestotrotz ist sie mit ihrer Berufswahl zufrieden. "Ich bin Lehrerin geworden, weil ich das Bildungssystem schätze. Und gerade bei uns in Österreich bietet das Schulsystem so viele Möglichkeiten, dass jeder seine Nische finden kann."
Von Anna Riedler / APA-Science