"Das Bild, das 'Brennpunkt' schafft, würde ich nicht unterschreiben"
"Schulgschichtn" ist im Februar 2019 mit dem Anspruch angetreten, Geschichten über den Alltag an Neuen Mittelschulen (NMS) in Österreich erzählen. Ein halbes Jahr nach dem Start zog Mitgründerin Simone Peschek im APA-Science-Gespräch Zwischenbilanz über das Projekt und über ihre ersten drei Jahre als Lehrerin an einer Brennpunktschule.
"Unser Ziel ist es, den Diskurs zu erweitern, der momentan stattfindet, und eine realistischere Sicht über die NMS zu bieten", hatte Peschek anlässlich des Starts der Plattform im Gespräch mit APA-Science gesagt. Gemeinsam mit Felix Stadler und Verena Hohengasser, beide ebenfalls Lehrer an Neuen Mittelschulen, wollte die Junglehrerin die negative Darstellung in den Medien und Köpfen der Menschen ausgleichen und auf positive Aspekte hinweisen, die der Schultyp zu bieten habe. In regelmäßig erscheinenden, anonymen Beiträgen von österreichischen Pädagogen sollte der Schulalltag thematisiert werden.
"Seither hat sich extrem viel getan", erzählt Peschek. "Es war für uns eine große Überraschung, dass es so positiv aufgenommen wurde. Wir haben viele E-Mails bekommen und auch persönlich sind wir immer wieder darauf angesprochen worden und haben Zuspruch bekommen." Nach einiger Zeit war es aufgrund des großen Inputs für die drei Lehrer nicht mehr notwendig, selbst Beiträge zu verfassen - "Wir machen es aber aus eigenem Wunsch heraus trotzdem noch ab und zu."
Geschichten betonen Vielfalt der Schulform
Die Geschichten, die mittlerweile auf der Website abgebildet sind, sind sehr vielfältig. Während eine Pädagogin über ihre Erfahrungen mit der Sportart Ultimate Frisbee als integrierende Kraft schreibt, appelliert eine Kollegin, den Wert von Sprachen wie Türkisch und Bosnisch zu heben, anstatt unter Mehrsprachigkeit nur ganz klassisch Englisch, Französisch und Co. zu verstehen.
"Eine Geschichte, die ich extrem spannend fand, war von einer Lehrerin in Wien, die beschrieben hat, dass sie in ihrer Klasse ein großes Mobbing-Problem hatte. Sie hat dann von außen Mediatoren dazu geholt, die mit den Kindern gearbeitet haben, und beschrieben, was das bedeutet und sich für sie und die Kinder verändert hat", zeigt sich Peschek begeistert von dem Erfahrungsbericht. "Jede Geschichte ist für sich interessant und beleuchtet ein anderes Thema und eine andere Perspektive. Das war uns so wichtig; dass es nicht nur eine Sichtweise gibt, sondern zeigt, wie vielfältig die NMS ist."
Die Quereinsteigerin hat eigentlich Sprach- und Religionswissenschaften studiert und kam nach dem Studium über das Fellow-Programm der Bildungsinitiative Teach For Austria ins Schulwesen. "Schule ist etwas, das mich schon immer interessiert hat, weil ich selbst vor allem in der Oberstufe sehr positive Erfahrungen gemacht und ein paar sehr inspirierende Lehrerinnen gehabt habe", sagt sie. "Ich hatte quer durch meine Schullaufbahn Lehrer, die für mich einen riesen Unterschied gemacht haben. Ich wollte versuchen, auch so eine Lehrerin zu sein, die einen Unterschied machen kann." Die Entscheidung, an einer NMS zu unterrichten, traf sie bewusst: "Hier kann man viel bewegen, mehr als an anderen Schultypen."
"Ich frage mich, was eigentlich brennen soll"
Die NMS Enkplatz im elften Wiener Gemeindebezirk Simmering, an der Peschek gemeinsam mit ihrer Kollegin Hohengasser eine dritte Klasse unterrichtet, zählt zu den sogenannten "Brennpunktschulen", ist also eine Schule an einem Standort mit vermehrt sozialpädagogisch schwierigen Schülern. "Ich finde die Bezeichnung 'Brennpunktschule' schwierig, weil ich mich frage, was eigentlich brennen soll. Das Bild, das 'Brennpunkt' schafft, ist eines, das ich so nicht unterschreiben würde."
Für Peschek stellt der Förderbedarf keine Abschreckung, sondern eine spannende Herausforderung dar. Am Standort Simmering, wo nach Pescheks Schätzung mehr als 90 Prozent der Kinder Migrationshintergrund haben, sind das vor allem die mangelnden Deutschkenntnisse der Schüler. "Die Deutschkenntnisse sind etwas, das ich vorher nicht gut einschätzen konnte. Ich habe unterschätzt, wie groß dieses Thema sein wird. Wie viel zusätzliche Unterstützung und Förderung wir eigentlich bräuchten, war mir nicht klar", so Peschek. In ihrer eigenen Klasse gebe es nur sieben Kinder, die Deutsch als Muttersprache hätten, und davon wiederum nur drei, von denen beide Elternteile einen österreichischen Hintergrund hätten. Das bedarf spezieller Förderung, individuell im Klassenverband, aber auch konkret in Deutschförderkursen und Förderstunden.
Weniger Administratives, mehr Förderung
Da ist es hinderlich, dass viel Zeit mit administrativen Tätigkeiten zugebracht werden muss. "Das sind so Kleinigkeiten", zählt Peschek auf: "Formulare, die die Kinder ausfüllen müssen, müssen abgestempelt und einsortiert werden, etc. Es sind keine schwierigen Arbeiten, aber man könnte die Zeit sinnvoller verbringen, um aus den Kindern das Bestmögliche rauszuholen."
Außerdem würde sich die Lehrerin ein durchdachteres Konzept für die Deutschförderung sowie mehr Frühförderung wünschen. "Für Kinder, die hier mit zehn Jahren an die Schule kommen, sind viele Dinge schon zu spät. Es wäre besser, wenn Kinder mit nicht Deutsch als Muttersprache schon im Kindergarten oder davor gefördert werden." Zusätzlich brauche es mehr Unterstützungspersonal in Form von Psychologinnen, Sozialarbeiterinnen und Co. "Wir hatten letztes Jahr einen Psychologen, der war alle zwei Wochen einen Nachmittag an der Schule - das ist bei über vierhundert Schülern nicht annähernd genug."
Umso wichtiger sei es, sich selbst persönlich abgrenzen zu können. "Das Gefühl, noch mehr tun zu wollen, mit Eltern zu reden, Nachhilfe zu organisieren, dieses Gefühl hat man immer." Tage, wo sie nach Verlassen des Schulgebäudes nicht mehr an ihre Schüler und den Unterricht denke, gebe es kaum. Die Probleme der Kinder, ihre Schicksale und Geschichten "nicht mit nach Hause zu nehmen und sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ist etwas, was ich erst lernen musste."
Höhen und Tiefen:
Ein Höhepunkt sei es für sie immer, wenn man an den Kindern sieht, dass sie weitergekommen sind, "wenn sie etwas schaffen, das sie vorher nicht geschafft haben." Als Beispiel nennt sie ein Mädchen, das vor zwei Jahren nach Österreich gekommen war und nun erfolgreich auf ein Gymnasium wechseln konnte. Dabei sei es nicht das Ziel, möglichst viele Kinder aus der NMS wegzubekommen. "Viele Kinder sind bei uns gut aufgehoben", betont sie. "Aber natürlich versuchen wir mit den Kindern das zu erreichen, was das Beste für sie ist. Das war bei diesem Mädchen der Fall: Sie war wegen mangelnder Deutschkenntnisse auf der NMS, hat in den zwei Jahren, in denen sie hier war, Deutsch gelernt, und dann war klar: Wenn sie das erreichen möchte, was sie werden will, nämlich Ärztin, dann ist es besser, wenn sie den Schultyp wechselt. Aber in dem System, das es jetzt gibt, glaube ich, dass die NMS absolut ihre Berechtigung hat und für viele Kinder ein guter Ort zum Lernen ist. Ob es diese Separation überhaupt geben sollte, ist eine andere Frage."
Tiefpunkte seien für Peschek jene Tage, an denen sie sich für eine Stunde viel Mühe gegeben hat, ihre Idee aber nicht aufgeht. "Das sind die frustrierendsten Momente: Wenn es sie nicht interessiert oder sie nicht bei der Sache sind, und man so viel Energie in etwas gesteckt hat, wo so wenig dabei rauskommt."
Ob sie sich jemals fragt, ob Sie damals die falsche Entscheidung mit ihrer Berufswahl getroffen hat? Diese Frage kann Peschek trotzdem mit einem klaren "Nein" beantworten: "Dafür macht es zu viel Spaß."