Simulieren: Wenn "Trial and Error" nicht zielführend ist
Citymaut - ja oder nein? Bei hochemotionalen Fragestellungen wie dieser ließe sich mit Simulationsmodellen mehr Sachlichkeit etwa in Hinblick auf Auswirkungen und Kosten in die Diskussion bringen, meinen Stefan Seer und Gernot Lenz, Mobilitätsforscher des Austrian Institute of Technology (AIT). Aber auch weil sie Kosten und/oder Risiko reduzieren hilft, ist die Technologie in der stark im Umbruch befindlichen Mobilitätsforschung, in der "Trial and Error" immer seltener der Weisheit letzter Schluss ist, nicht mehr wegzudenken.
Gerade der Faktor Mensch, der in der Mobilitätsforschung eine große Rolle spielt, erhöht die Unwägbarkeiten. "Um Prognosen machen zu können, müssen wir Verhaltensweisen der Verkehrsteilnehmer aus Daten ableiten und in diese verhaltensbasierten Modelle integrieren können", erklärt Senior Scientist Stefan Seer. Nicht so sehr die Daten selbst, sondern die Methoden, mit denen man sie analysiere, stehen dabei im Vordergrund. Um "die Masse" realitätsgetreu abzubilden, arbeitet man mit Meinungsforschern und betrachtet das emotionale Handeln der einzelnen sozialen Schichten. "Einen Querschnitt über die Bevölkerung nehmen zu können, in der alle rational, berechenbar und gleich handeln, ist illusorisch", weiß er.
Verkehrsmodell für Vorarlberg
Für das Projekt Smart City Rheintal in Vorarlberg hat das AIT ein Verkehrsmodell aufgesetzt und gemeinsam mit Stakeholdern Maßnahmen definiert: darunter Taktverbesserungen im Öffentlichen Verkehr, neue Radwegverbindungen, E-Ladestellen inklusive unterschiedlicher Szenarien, wo Nutzer ihre Fahrzeuge aufladen können. "In der Simulation konnten wir erkennen, welche Auswirkungen die Maßnahmen auf den Verkehr oder die Erreichbarkeit haben", erläutert Gernot Lenz, Research Engineer am Center for Mobility Systems. In etwa zwei Jahren werde man sehen, ob die prognostizierten Auswirkungen tatsächlich eingetroffen seien. Jede Simulation wird evaluiert, um Fehler bei künftigen Modellen zu vermeiden und diese entsprechend anzupassen.
Da das Instrument der Simulation eine objektive Diskussionsgrundlage schafft und zum Dialog unterschiedlicher Experten führt, wäre es auch für emotionale Fragen wie eine Citymaut gut geeignet, meinen die Forscher. "Um allerdings die Reaktion der Wiener Bevölkerung abschätzen zu können, muss man sich schon sehr intensiv mit dem Thema auseinandersetzen - einfach das Modell einer anderen Stadt zu kopieren, funktioniert nicht", so Seer. Als ideale Simulations-Themen eignen sich auch die Parkraumbewirtschaftung, neue VOR-Linien oder autonomes Fahren - wie etwa beim Projekt in der Seestadt Aspern, wo untersucht wird, wie autonome Kleinbusse in das Verkehrssystem integriert werden können. "Wir lernen dort, diese Busse einzubinden. Zudem sind wir auch als Forschungspartner an Bord, um das Gelernte sofort wieder in die Planung einfließen zu lassen", erläutert Lenz.
Eine Annäherung und kein Ergebnis
Bewusst sein müsse alle Beteiligten, dass ein Simulationsmodell letztlich nur eine Abstrahierung der Realität sei und es nicht ein fixes Ergebnis, sondern mehrere Szenarien mit einer gewissen Unschärfe als Resultat gebe. "Verliert man diese Tatsache aus dem Blick, kann es schon zu Fehlinterpretationen kommen", räumt Seer ein. Am AIT versucht man das Risiko abzufedern, indem man sehr eng mit den diversen Bedarfsträgern und Auftraggebern zusammenarbeitet, sowohl bei der Definition von Szenarien, bei den eingesetzten Maßnahmen als auch bei der Analyse der Ergebnisse. "Meistens ist es sogar ein iterativer Prozess, wo man dann noch einmal zurückgeht und sagt, aha, jetzt haben wir aus der Simulation etwas gelernt - vielleicht schauen wir uns weitere Szenarien in diese Richtung an, vielleicht lässt sich noch eine Verbesserung finden", schildert der Wissenschafter.
Seit gut einem Jahrzehnt werden am AIT Software und Simulationsmodelle entwickelt. Diese Expertise ist in zahlreiche Anwendungen, etwa zum Donauinselfest, den Schloss Schönbrunn-Sommerkonzerten, die Verlängerung der U-Bahnlinie U2 bzw. die Planung der neuen U-Bahnlinie U5, eingeflossen. Bei letzterer, die ja in großer Tiefe gebaut wird, nutzten die Forscher das Werkzeug, um sich Evakuierungsmöglichkeiten anzusehen.
Eine Anwendung der jüngeren Vergangenheit ist ein Planungstool für die Besucherleitung des Schlosses Schönbrunn, um Überfüllung und Staus in einzelnen Räumen zu verhindern. Das Simulationsmodell kann mit den laufenden Beobachtungsdaten gefüttert werden und man kann einen besonders gut oder weniger gut gelaufenen Tag Revue passieren lassen. "Sie können sich ansehen, was es gebracht hätte, die Besucher durch einen anderen Raum zu führen, die Erklärungen über den Audio-Guide in einzelnen Räumen in der Länge anzupassen, eine Tour abzukürzen oder zu verlängern", erklärt Seer.
Eintauchen mit Virtual Reality
Wichtig ist den Forschern, die "Schnittstellen", also die Berührungspunkte zwischen den diversen Beteiligten, nicht aus den Augen zu verlieren. "Wenn an einer großen Kreuzung in Wien eine neue Straßenbahnhaltestelle gebaut wird, sind sehr viele Interessensgruppen betroffen, und sie alle haben andere Prioritäten: Straßen, Beleuchtung, Gehsteige, Baumbepflanzungen usw.", macht Seer deutlich. Mithilfe einer Simulation ließen sich Ergebnisse deutlicher transportieren, umso stärker, wenn sie, was inzwischen oft der Fall sei, mit Virtual oder Augmented Reality gekoppelt werden. "So können wir einer Bewohnerin eines Bezirks eine Simulation so anschaulich präsentieren, dass sie sie sehr intuitiv versteht. Sie taucht immersiv in 3D in die Planung ein. Ich kann ihr verschiedene Szenarien zeigen und auch mögliche Auswirkungen von Ideen, die sie einbringt", so der Wissenschafter.
Gleichzeitig könne man das Werkzeug dazu verwenden, um Planungen noch einmal zu evaluieren, was etwa am Hauptbahnhof Wien gemacht wurde. Dort habe man mithilfe von Virtual Reality das Leitsystem - "wo sind welche Schilder" - weiterentwickelt und überprüft. Auch Psychologen kommen hier ins Spiel. "Wir machen beispielsweise Blickanalysen. Dafür muss man erst einmal verstehen, was es bedeutet, wenn die Menschen in der virtuellen Umgebung wo hinschauen. Hinschauen wiederum bedeutet nicht, dass eine Information auch wahrgenommen oder verarbeitet wird", erklärt Seer. In den wichtigen Punkten, etwa wenn es um das Einschätzen von Distanzen geht, liefere die VR dabei sehr verlässliche Ergebnisse.
Künftig werden Simulationsmodelle wohl in stärkerer Vernetzung entwickelt werden, glauben die Forscher einen Trend zu erkennen. "Eine Auswirkungsanalyse kann man in die verschiedensten Richtungen machen, die Folgen einer Maßnahme also nicht nur auf Mobilität bezogen beurteilen, sondern auch bezüglich Energie oder Umwelt." Geplant sei, im Haus - das ja eine große Bandbreite an Themen abdeckt - in dem Bereich enger zu kooperieren.
Ohne Interdisziplinarität kein Erfolg
Ein "Riesenvorteil" sei die interdisziplinäre Arbeit am AIT. Durch sie lerne man, die unterschiedlichen Fachbereiche einzubringen und Mehrwert zu schaffen. Die Disziplinen reichen von den Naturwissenschaften, der Physik, Technik und Mathematik bis hin zur Psychologie, der Architektur oder dem Design. "Haben wir die Expertise nicht selber, kooperieren wir mit Partnern, etwa dem MIT - Massachusetts Institute of Technology", erzählt Seer. Mit dem dortigen Media Lab und dem Senseable City Lab, wo er einst selber tätig war, besteht eine langjährige Forschungskooperation. Ohne sehr gute Expertise in mindestens zwei bis drei Disziplinen können Projekte nicht mehr erfolgreich sein, ist der Wissenschafter überzeugt.
Von Sylvia Maier-Kubala / APA-Science