Lernen am Modell in der Industrie
Immer öfter wird in der Industrie einem physikalischen Objekt oder System ein "digital twin", also ein virtuelles Abbild zur Seite gestellt. Hauptsächlich soll damit die Systemzuverlässigkeit und Machbarkeit sichergestellt werden, auch die laufende Zustandsüberwachung von Prozessen und Anlagen kann so erfolgen. Das spart Zeit und Kosten, etwa für die Wartung oder fehlerhafte Prototypenentwicklungen. APA-Science hat sich einige Einsatzbereiche für "digital twins" angesehen.
Einsatz für Trocknungsprozesse
So etwa im Rahmen des EU-Projekts "DryFiciency", das vom AIT koordiniert wird. Gemeinsam mit zwölf Partnern entwickelt und demonstriert man dabei Hochtemperatur-Wärmepumpen für Trocknungsprozesse in der Industrie. Errichtet werden die Demoanlagen in Österreich unter anderem bei Wienerberger. "Um die Wärmepumpen richtig zu dimensionieren, den Betriebsbereich festzulegen und die Auswirkungen in punkto Energie, Kosten und CO2-Einsparen bestimmen zu können, werden Prozess-Simulationstools eingesetzt", erklärt AIT-Forscherin Veronika Wilk. Außerdem soll der Demobetrieb simulationsgestützt ausgewertet und optimiert werden. Dadurch werde ein tieferes Verständnis der Prozesse ermöglicht. "Wir können etwa die Auswirkungen auf die Wärmepumpe simulieren, wenn wir einen anderen Verdichter einsetzen", so Wilk.
Wenn ein Teil des Systems als physikalisches Objekt beibehalten und der Rest als Echtzeitsimulation ausgeführt wird, spricht man von "Hardware-in-the-loop"-Methoden, so Johannes Stöckl vom Center for Energy am AIT. Sie werden verstärkt im Entwicklungsprozess von leistungselektronischen Systemen wie Photovoltaik-Wechselrichtern verwendet. "Die Mischung beider Welten ermöglicht die Entwicklung von Software auf einem realen Prozessor, der dann auch im Produkt zum Einsatz kommt, zu starten und zu testen, noch ehe die Leistungselektronik-Hardware überhaupt verfügbar ist", erklärt er die Vorteile der Methoden, die unter anderem bei der Entwicklung des Smart Grid Converter eingesetzt wurden. Bei diesem Wechselrichter, der zur Sicherstellung der Netzqualität im Niederspannungsnetz verwendet werden kann, habe sich gezeigt, dass sowohl Projektrisiken als auch die Entwicklungszeit durch den hohen Anteil an Visualisierung verringert werden können.
Kann (noch) kein ganzes System abbilden
Ein Simulationsmodell könne derzeit noch nicht das gesamte System abbilden, so Stöckl. Dafür reiche die Rechenkapazität im Normalfall nicht aus. Auch deshalb, weil die Verbindung verschiedener Domänen - elektrisch, mechanisch oder thermisch - die Komplexität deutlich erhöhe. "Daher werden, wo es möglich ist, Näherungen und Vereinfachungen eingeführt. Es werden zum Beispiel Schalter und Leitungen 'idealisiert', um die Rechenzeit zu vermindern. Bestimmte Effekte, die sich durch den mechanischen Aufbau einer Leiterplatte ergeben, werden normalerweise vernachlässigt", erläutert er.
Jede Simulation ist allerdings nur so gut wie das Modell, weiß Stöckl. Ein typischer Fehler kann durch die Verwendung der Bauteilwerte ohne Auslotung der Fertigungstoleranzen entstehen. Darüber hinaus sei die Interpretation der Simulationsergebnisse nur mit einem gewissen "Systemwissen" zu bewerkstelligen, etwa wie plausibel ein Resultat sei oder von welchem Geltungsbereich man ausgehen könne.
Bahn-Infrastrukturprojekte mit digitalem Zwilling
Für Planung, Design und Bau von komplexen Bahninfrastruktur-Projekten nutzt der Technologiekonzern Siemens mit "Building Information Modeling" einen digitalen Zwilling. Dieses computergenerierte Modell ist einer Aussendung zufolge eine objektorientierte, parametrische und digitale 3D-Darstellung des Systems. Die Datenbasis schafft die Voraussetzung für umfassende Simulationen, um Systemkonflikte zu vermeiden, das Risiko von Verzögerungen zu reduzieren und die Installation zu beschleunigen.
CD-Labor für Prüfstandsysteme setzt auf mathematische Modelle
Mit Modellen, allerdings keinen Simulationsmodellen, beschäftigt sich auch das CD-Labor für Modellbasierte Regelung komplexer Prüfstandssysteme an der Technischen Universität Graz. "Typischerweise wird zunächst ein mathematisches Modell des betrachteten Systems erstellt und auf Basis dessen dann die Regler entworfen. Die 'Kunst' der regelungstechnischen Modellierung besteht darin, dass die Modelle möglichst einfach sein - im Hinblick auf den nachfolgenden Reglerentwurf -, aber natürlich trotzdem die Realität hinreichend gut widerspiegeln müssen", erklärt Martin Horn vom Institut für Regelungs- und Automatisierungstechnik und Leiter des CD-Labors.
Im CD-Labor werden die Regelgesetze auf Basis der mathematischen Modelle entworfen. "Natürlich wird bei uns viel simuliert, aber: Für die hochgenaue Simulation gibt es fertige komplexe Modelle, die aber für den Reglerentwurf meist ungeeignet sind", meint er. Als Vorteil der Simulation nennt er neben dem frühzeitigen Erkennen von Problemen, dass man ein "sehr gutes Gefühl für das Verhalten des realen Systems" erhalte und Experimente durchführen könne, die in der Realität aufgrund von zu hohen Kosten, Zeitaufwänden oder auch wegen eines Verletzungsrisikos nicht möglich seien.
Simulation lässt sich für jede technische Anlage einsetzen, vorausgesetzt, die mathematische Modellierung stimmt, so Horn: "Die Erstellung der Modelle kann sehr schwierig und aufwendig sein und erfordert fundierte Kenntnisse in verschiedenen Fachdisziplinen." So liegen meist auch Fehler im mathematischen Modell vor, etwa unzulässige Vereinfachungen, wenn es gröbere Abweichungen der Simulations-Ergebnisse von den Ergebnissen in der Realität gibt. Andererseits sei es oft schwierig, Modellparameter richtig zu bestimmen: "Die Modellstruktur stimmt, die Parameter aber nicht", gibt Horn zu bedenken.
Von Sylvia Maier-Kubala / APA-Science