Lokalaugenschein in Ottakring: "Man muss sich selber helfen"
Endlich (wieder) Schule, endlich zur Ruhe kommen und in eine Alltagsnormalität eintauchen - das wünschen sich Flüchtlingskinder und ihre Eltern. Mit großem Improvisationsvermögen und Engagement sorgen zahllose Lehrer für einen gelungenen Übergang in eine gänzlich fremde Schulkultur. Aber sie brauchen dringend Unterstützung. Spürbare Hilfe sollen nun mobile interkulturelle Teams bringen, geplant ist laut Bildungsministerium auch ein fixes Kontingent an Schulsozialarbeitern.
Dabei sind die aktuellen Flüchtlingskinder nur eine weitere Herausforderung für das Lehrpersonal. So spricht österreichweit ein knappes Viertel (22,2 Prozent) aller Schüler in einer anderen Umgangssprache als Deutsch. In Wien sind es mit 47,5 Prozent beinahe die Hälfte, belegen Zahlen der Medien-Servicestelle Neue ÖsterreicherInnen. In manchen Bezirken haben sogar nur ein oder zwei Kinder pro Klasse Deutsch als Erstsprache.
Dolmetscher händeringend gesucht
So auch in der Volksschule Liebhartgasse im 16. Bezirk, mit ihren zwischen 20 und 30 Nationalitäten. Hier sind die Kinder von rund 30 Flüchtlingsfamilien untergebracht und gleichmäßig auf die 16 Klassen aufgeteilt, erzählt Direktorin Sabine Klasek im Gespräch mit APA-Science. Die Lehrerschaft sei an den Herausforderungen der vergangenen Jahre gewachsen, aber dennoch würde sie sich nach professioneller Unterstützung sehnen. "Wir brauchen Dolmetscher, Sozialarbeiter und auch eine Sekretärin, denn ich versinke in administrativen Aufgaben", stellt sie fest.
Denn nicht einfach ist die Situation durch die unterschiedlichsten Voraussetzungen, die die großteils syrischen neuen Schüler mitbringen. "Manch ein Kind hat noch nie einen Stift in der Hand gehalten, muss dem Alter gemäß aber in die dritte oder vierte Klasse eingestuft werden. Als außerordentlicher Schüler kann er oder sie höchstens ein Jahr zurückgestuft werden, um in Ruhe die Sprache zu erlernen", erklärt sie. Der Anteil echter Analphabeten sei zum Glück jedoch sehr gering.
Ebenso herausfordernd ist die Elternarbeit. Doch Verständigung ist auch mit ihnen oft nicht möglich. "Nur manche Eltern sprechen Englisch, andere kennen unsere Schriftzeichen nicht", stellt Klasek fest. "Elternsprechtage, Zeugnisbesprechungen (Anm.: alternative Leistungsbeurteilung), aber auch der Austausch von wichtigen Informationen sind ohne Dolmetscher unmöglich", führt sie aus. Große Verbesserungen habe ein Muttersprachenlehrer für Arabisch, der seit diesem Schuljahr für fünf Wochenstunden an der Schule sei, gebracht. "Bei akuten Angelegenheiten ist er zur Drehscheibe zwischen Lehrern und Eltern geworden. Er ist eine unschätzbare Hilfe und übersetzt zwischen Tür und Angel für uns. Wir bräuchten ihn viel öfter", so die Direktorin, die sich mit ihrer Kollegenschaft bis dahin großteils privat um eine Lösung gekümmert hat.
25 mobile Integrationsteams unterwegs
Dass das Improvisieren und Verlassen auf Ehrenamtliche keine Dauerlösung sein kann, ist wohl auch dem Bildungsministerium bewusst. Die Sprachlücke schließen sollen die neu gebildeten mobilen interkulturellen Teams (MIT), wie Terezija Stoisits, Flüchtlingskinderbeauftragte im Bildungsministerium, auf Anfrage von APA-Science erklärt. Das ursprünglich bis Ende Dezember 2016 laufende MIT-Projekt wird ihr zufolge aus dem Integrationstopf finanziert und wurde für 2017 verlängert. Die interdisziplinären Teams bestehen in der Regel aus drei Personen - Sozialarbeitern, Psychologen, Sozialpädagogen oder Pädagogen. Wichtig sind interkulturelle Kenntnisse und Sprachkenntnisse - eben auch sehr gutes Deutsch, "was die Rekrutierung nicht ganz einfach macht", so die Expertin. Zur Zeit gibt es 25 mobile Teams in Form von 75 Vollzeitstellen, die von 85 Personen besetzt sind. 2017 soll die Zahl der Vollzeitstellen auf 80 aufgestockt werden. "Das Projekt wird evaluiert. Das bisherige Feedback ist großartig", heißt es seitens Stoisits.
Auch Direktorin Klasek hat mit Hilfe eines solchen Teams einen ersten Elterninformationsnachmittag für die arabischen Familien organisiert, worüber sie sehr glücklich ist. "Dort können wir endlich erklären, wie unsere Schule tickt. Was ist ein Mitteilungsheft, was ist eine Jause, und wie lange dauert die Schule? Manchen Familien fehlt hierzu jede Vorstellung", erklärt sie. Grundsätzlich handle es sich beim Großteil der Eltern aber um sehr bemühte, engagierte Menschen, die wollten, dass das Kind schnell lerne. "Sie fragen auch immer, wo man am Nachmittag noch Deutsch lernen kann", erzählt sie. Von einer ganztägigen Schule würden die Kinder sicherlich profitieren. Das unterstreicht auch Stoisits: "Mein Wunsch wäre natürlich die ganztägige Schule für alle, insbesondere für Kinder mit keinen oder schlechten Deutschkenntnissen. Die ersten und besten Deutschlehrer sind die Mitschüler", betont die Integrationsexpertin.
Mehrstufenklasse als Regelunterricht
Die Situation des Klassenlehrers ist nicht einfach. "In der Vierten sind Schüler, die man aufs Gymnasium vorbereiten muss und dann gibt es da jene, die kein Wort Deutsch sprechen. Und dazwischen die ganze Bandbreite", weist Klasek auf den Spagat hin, der Lehrern abverlangt wird. "Welches Schulbuch passt zu welchem Schüler, wo kann man andocken? Und während man den Unterricht für die Klasse hält, muss man für ein, zwei oder mehr Kinder Unterricht in einer ganz anderen Schulstufe mit einem anderen Buch organisieren."
Das System funktioniere dank der guten Zusammenarbeit der Pädagoginnen. "Sie versuchen sich zu vernetzen und gegenseitig zu unterstützen. So kann etwa ein Kind, das in die dritte oder vierte Klasse hinzukommt und keinen einzigen Buchstaben schreiben kann, in der ersten Klasse beim Buchstabenlernen dabei sein. Man muss sich einfach selber helfen", lautet ihr Credo.
Höchst divers geht es auch in einer quicklebendigen vierten Klasse der Schule zu. Die 25 Kinder kommen aus der Türkei, Afghanistan, Syrien, Polen, dem Irak, Rumänien, Serbien und Österreich. "Beispielsweise sind drei Schüler hier geboren und in den Kindergarten gegangen - und können trotzdem keinen richtigen Satz auf deutsch sagen. 'Echten' Österreicher habe ich aber nur einen - und der ist in Deutschland aufgewachsen", schildert die Lehrerin Christine Moser die Situation. Die Hälfte der Schüler besitzt die österreichische Staatsbürgerschaft, 16 Kinder sind Muslime.
Im Vorjahr stieß L. (Anmerkung: Name der Redaktion bekannt) zur Klasse. Die Tochter einer syrischen Anwältin sprach fließend Englisch, kann mittlerweile sehr gut Deutsch und war von Anfang an mit Eifer beim Lernen. "Vom ersten Tag an forderte sie Zusatzaufgaben ein", erklärt Moser. Zeitgleich begann ein ebenfalls aus Syrien stammendes Mädchen, allerdings kurdischsprachig aufgewachsen. "Sie war mit neun Jahren das erste Mal in der Schule. Niemand aus ihrer Familie ist bis jetzt zur Schule gegangen", erzählt Moser. "Sie tut sich sehr schwer."
Sprachdefizite auch bei Österreichern
Die Pädagogin ist froh über die zehn Wochenstunden Intensivsprachförderung für ihre drei neu hinzugekommenen syrischen Kinder. Im Vorjahr habe es nur an drei Tagen Sprachunterricht für die Außerordentlichen gegeben, "viel zu wenig". An der Sprache würde es aber auch bei manch ordentlichem Schüler hapern. Nicht bei allen Eltern stoße man mit dem Vorschlag, das Kind doch in den Ferien in einen Deutschkurs zu schicken, auf offene Ohren. "Wie soll das aber dann im nächsten Jahr in der Sekundarstufe weitergehen?", fragt sich nicht nur die Pädagogin. Bei Fällen wie diesen setze man große Erwartungen in die Kommunikationsfähigkeit der mobilen Integrationsteams, erklärt die Direktorin.
Für fünf bis sechs Stunden pro Woche kommt eine Begleitlehrerin in die Klasse, die sich an und für sich um jene Kinder kümmert, deren Muttersprache nicht Deutsch ist - "also um alle", meint Moser mit einem Augenzwinkern. Ist sie da, können leistungshomogenere Gruppen gebildet werden. Ein fragiles System, denn ist ein Lehrer krank, fällt auch sie aus - sie muss dann einspringen. Dankbar ist die Lehrerin auch für die Unterstützung durch eine ehrenamtliche Lesepatin, die gerade mit drei Kindern am Gang sitzt und übt.
H. ist seit zwei Monaten an der Schule. Der freundliche Bub kann sich schon recht gut verständigen und erzählt von seinen zwei Schwestern. Er mag den Deutschkurs und hat auch Spaß am Lesen und Rechnen. Später will er Arzt werden. Als die Lehrerin ihm eine Nachricht über fehlende Hausübungen für seine Eltern mitgeben will, werden seine Augen glasig und er schluckt. "Ist das ein Problem, wenn das dein Vater liest?", fragt sie mit leiser Vorahnung und steckt den Zettel wieder weg, als er beklommen nickt.
85 Stellen für Schulsozialarbeiter veranschlagt
Noch in diesem Schuljahr kommen laut Stoisits 85 Stellen für Schulsozialarbeit, finanziert durch Mittel aus dem Integrationstopf II. Solcherart Unterstützung würde sich Christine Moser dringend wünschen. "Nicht nur für die aktuellen Flüchtlinge. Die Belastungen der Kinder sind vielfältig. Fast alle tragen Riesenängste mit sich herum, aber die kommen nur durch Zufall zum Vorschein", sagt sie. So wie jenes Mädchen, das Angst hat, vom 'schwarzen Mann' geholt zu werden. Oder der eigentlich vorlaute Bub, der eingesteht, sich vor einer Vergewaltigung zu fürchten und daher nie allein auf die Straße geht. Oder ein aufgeweckter und perfekt Deutsch sprechender irakischer Bub, für den es bereits die sechste Volksschule ist. "Die Mutter zieht aus Angst vor dem Schwiegervater ständig um. Einmal hat sie mir Fotos gezeigt, was er anrichtet, wenn er wütet. Das ist schwer zu ertragen", erzählt die Pädagogin. Angezeigt habe die Frau den Mann trotzdem nie.
Auch abenteuerliche Fluchtgeschichten kommen manchmal an die Oberfläche. So wie jene eines jungen Afghanen, der allein mit seinen sechs Geschwistern flüchtete. Er begann davon zu erzählen, als die Klasse sich im Zuge der Arbeit mit dem dreisprachigen Trio-Heftchen mit Flüchtlingsherkunftsländern beschäftigte. "Im Schlauchboot sind sie fast ertrunken, an einer Grenze wurden sie in der Nacht von Polizisten mit Hunden verfolgt", so die Lehrerin. Im Umgang mit anderen fehle ihm oft Sensibilität - wohl weil er sich selber eine unfassbar dicke Haut zulegen musste.
Parkbetreuung als "Lebensretter"
Halbtagsschule bedeutet in einem Bezirk wie diesem, dass viele Kinder am Nachmittag sich selbst überlassen sind. Wohl gerade deshalb schwärmen die Mädchen und Buben von der Parkbetreuung. "Die spielen und reden mit uns, sie machen alles", erzählen sie freudestrahlend. Auch Ausflüge stünden am Programm. Schon des öfteren habe Christine Moser von ehemaligen Schülern gehört, dass die Parkbetreuung für sie so etwas wie ein "Lebensretter" gewesen sei.
Übrigens - die fünf häufigsten Herkunftsländer (Jahr 2014/15) der heimischen Schüler waren laut Medien-Servicestelle "Neue ÖsterreicherInnen" unverändert die Türkei, Serbien und Montenegro, Deutschland, Bosnien-Herzegowina und Kroatien. Übertragen in die in Schulen am häufigsten verwendete Umgangssprache bedeutet das: Bosnisch, Kroatisch und Serbisch (BSK) zusammengenommen führen vor Türkisch, Rumänisch und Arabisch.
Von Sylvia Maier-Kubala / APA-Science