"Ein Plädoyer für die Erweiterung der Denkzonen"
Allerorten in Europa herrscht Migrations- und Flüchtlingspanik, so wie sie unlängst Zygmunt Bauman in seinem neuesten Buch "Die Angst vor den anderen" beschrieben hat. Österreich ist da keine Ausnahme. Wenn Politiker schon den Teufel von möglichen Bürgerkriegen zwischen "Einheimischen" und "kulturfremden Armutsmigranten" an die Wand malen, dann sind wir mit einem Schlag inmitten der postfaktischen Politik, die sich um Fakten nicht schert und Gefühle, Emotionen und konstruierte Wahrheiten in den Mittelpunkt der Politik rückt.
Man weiß ja aus der Geschichte, dass in jenen Momenten, wo die Situationen unübersichtlich und komplex sind, wo tiefe und oft unerklärliche Vielfalt der Herausforderungen auch tiefes Nachdenken und komplexe Antworten erfordert, das Gegenteil geschieht - wie Pilze nach dem Regenguss schießen auf einmal von überall all jene in die Höhe, die Ängste der Menschen instrumentalisieren, einfache Antworten anbieten, ja sogar hetzen. Das ist gefährlich, weil es den demokratischen Konsens in europäischen Gesellschaften gefährden kann.
Zygmunt Bauman setzt genau an der selben Stelle an wie auch Ruth Wodak in ihrem neuesten Buch "Politik der Angst" und deutet auf ein Phänomen hin, dass die Migrationsforschung vor große Herausforderungen stellt, nämlich wie kann man jenseits der effekthascherischen, angstgetriebenen und oftmals populistischen Realpolitik mit Evidenz, klaren Erkenntnissen und behutsam vorgetragenen Rückschlüssen der Flucht- und Migrationsdebatte ihren konstruierten Schrecken wegnehmen. Die Frage im Anschluss lautet, wie man dies zu einem Zeitpunkt tun kann, wo wir Zeugen von Legitimationskrisen der (europäischen) Demokratie sind, wo das Vertrauen in Politik und politische Repräsentanten sinkt und wo sich EU-ropa selbst in einem Prozess der Selbstfindung und möglicher Wieder- und Neuerfindung befindet.
Ein erster Schritt in Richtung der De-Dämonisierung von Flucht und Migration müsste darin bestehen, den mittlerweile fest verankerten Begriff der "Flüchtlingskrise" zu dekonstruieren. In der Metapher der Krise suggeriert man eine Überforderung Europas, die das Leben der Europäer fundamental - zum Schlechteren - verändert und der man nur durch den Schutz vor den anderen begegnen kann. Historische Vergleiche würden uns da weiter helfen. Vom Ausmaß her wäre ein Vergleich mit der Fluchtbewegung aus dem ehemaligen Jugoslawien zu Beginn der 1990er Jahre angebracht. Beginnend ab den 1990er Jahren gelang es Ländern wie Österreich, Deutschland oder Schweden, die damals wie heute die meisten Flüchtlinge aufnahmen, einen stabilen rechtlichen und humanen Rahmen für die Geflüchteten anzubieten. Etwa 90.000 Menschen aus Bosnien kamen nach Österreich, bekamen rechtliche Sicherheit mit dem "De-Facto Flüchtlingsstatus", wurden versorgt, in die Schulen und Arbeit integriert. 60.000 von denen sind geblieben, die meisten sind heute österreichische Staatsbürger und nicht wegzudenkender Teil der Republik.
Aus diesem historischen Vergleich ergibt sich eine zweite prioritäre Frage, nämlich jene nach Exklusions- und Inklusionsmechanismen in Österreich und anderen europäischen Gesellschaften. Die Frage der Zugehörigkeit zum Demos wird gerade neu verhandelt. Man geht in Teilen Europas angesichts der aktuellen Flucht- und Migrationsbewegung immer mehr vom Solidaritätsgedanken und einem europäischen inklusiven Kosmopolitismus hin zur nationalstaatlichen Enge und kulturell-moralischer Wärme in nach Außen hin abgeschotteten Gemeinschaften. Dies muss im globalisierten Zeitalter als Anachronismus erscheinen, zumal all jene Staaten, die für die Rückkehr zum Nationalstaat plädieren und ihr Heil in Konzepten wie "illiberalen Demokratien" suchen, voll im globalisierten kapitalistischen Finanz- und Warenfluss mitschwimmen. Dieser neue, zunehmend autoritäre Nationalismus, in dem die starken Männer den Ton angeben und den populären Fantasien von kulturell reinen und sicheren Nationalstaaten frönen, nährt sich an den Flucht- und Migrationsdebatten. Caroline Emcke, die aktuelle Trägerin des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, bringt dieses Dilemma auf den Punkt: "Es wird ein neues Anderes gesucht - um die Unsicherheit darüber, was das Eigene sein soll und kann und darf, zu überlagern. Dafür werden dann Muslime instrumentalisiert. Als Ersatz. Insofern ist es wichtig zu differenzieren: zwischen der sozialen oder ökonomischen Verunsicherung mancher, für die es durchaus nachvollziehbare Gründe gibt, und der Angst, die nur vorgeschoben wird, um Menschenverachtung harmloser erscheinen zu lassen." Die Differenzierungsarbeit ist es, die Forschung zur Flucht und Migration anbieten kann und muss, um den autoritären Gefahren vorzubeugen.
Die Flucht- und Migrationsforschung international und in Österreich hat zu all diesen Fragen sehr viel zu bieten. Bereits ein flüchtiger Blick in die von Heinz Fassmann, Richard Potz und Hildegard Weiss herausgegebenen Bände zur Migrations- und Integrationsforschung oder ein kurzer Besuch bei der jährlichen Jahrestagung für Migrations- und Integrationsforschung in Österreich würde genügen, um von der Vielfalt und Reichhaltigkeit der geleisteten wissenschaftlichen Arbeit überzeugt zu werden. Migration, Flucht und Integration als klassische Querschnittsmaterie, die von unterschiedlichsten Disziplinen erforscht wird, muss aber offensiver nach interdisziplinären Schnittmengen suchen. Eine solche prioriätere Schnittmenge sollte jene sein, die sich mit dem Zustand der Demokratien und offenen Gesellschaften (und auch ihrer Feinde) in Europa beschäftigt.
Die Flucht- und Migrationswissenschaft muss zu einer Demokratiewissenschaft werden. Sie muss angesichts der derzeitigen Herausforderungen politischer werden und den Finger in die oben diskutierten Wunden der Gesellschaften Europas legen. Je stärker die Emotionen und die Angst die Öffentlichkeit prägen und das politische Handeln motivieren, desto stärker müssen die faktisch abgesicherten Ergebnisse und Erkenntnisse der Flucht- und Migrationsforschung den Weg in die öffentliche Debatte suchen. Dort gilt es dann, mit Verbündeten in der Zivilgesellschaft und bei den AktivistInnen, in den Medien aber auch Verbündeten in der Politik, für einen demokratischen und humanen Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen zu kämpfen. Man muss den Weg von der kulturell-moralischen Polarisierung (Jan Werner Müller) hin zur tatsachenbezogenen Realität bestreiten, jenen Weg zu klaren demokratischen Forderungen nach gleichem Recht für alle Flüchtlinge und Migranten, nach humanem Umgang mit Geflüchteten und der Aufrechterhaltung einer pluralen öffentlichen Sphäre, die den kulturellen Unterschied nicht dämonisiert sondern thematisiert, anerkennt und behutsam bearbeitet. Das ist der einzige Weg, der der Politik der Angst und neuen autoritären Gefahren einen Riegel vorschieben und so zur (Wieder)Belebung eines demokratischen und offenen Europa und Revitalisierung des europäischen Friedensprojekts beitragen kann.