Ungarn 1956 - Reaktionen auf Flüchtlinge folgen heute gleichem Muster
Die Reaktionen in Österreich auf Flüchtlingsströme sind in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder dem gleichen Muster gefolgt: Einer kurzzeitigen Welle der Hilfsbereitschaft sei bald Sorge um Arbeitsplätze und Wohnraum und die Forderung, die Flüchtlinge mögen weiterziehen, gefolgt, sagt der Wiener Historiker Maximilian Graf im APA-Gespräch.
"2015 ist nichts passiert, was wir nicht schon kennen", hält der Mitarbeiter des Instituts für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften fest. Graf hat sich vor allem eingehend mit der Geschichte der Kommunismusflüchtlinge nach Österreich befasst, insbesondere mit den Wellen 1956 aus Ungarn, 1968 aus der Tschechoslowakei und 1981 aus Polen.
Ungarn-Flüchtlinge im kollektiven Gedächtnis
Dabei sind insbesondere die Ungarn-Flüchtlinge von 1956/57 im kollektiven Gedächtnis geblieben. Rund 200.000 Personen überschritten damals innerhalb weniger Monate die Grenze zu Österreich, da während des Ungarnaufstandes im Oktober/November 1956 "der ungarische Grenzschutz praktisch zusammengebrochen" war, wie Graf sagt. In Spitzenzeiten Mitte November waren es 3.000 bis 5.000 Menschen pro Tag. Möglich wurde dieser Flüchtlingsstrom nur, weil kurz vor Ausbruch des Aufstandes ein Abbau des Eisernen Vorhangs und eine Entminung des Grenzgebietes durch Ungarn stattgefunden hatte.
Erst im Frühjahr 1957, als die neue, von der Sowjetunion unterstützte Führung unter Janos Kadar ihre Macht gefestigt und die Stacheldrahtzäune und Minenfelder an der Grenze erneuert hatte, versiegte der Flüchtlingszustrom. Zu diesem Zeitpunkt war aber bereits ein Umschwung in der öffentlichen Meinung Österreichs zu spüren - "vor allem, als klar wurde: Es bleiben manche hier." Bald habe es geheißen: "Die nehmen uns die Arbeitsplätze weg, es gibt keinen Wohnraum für sie, wir haben selbst genug Probleme."
"Wir haben schon so viel geleistet"
Schon damals habe im österreichischen Diskurs der Stehsatz "Wir haben schon so viel geleistet" eine große Rolle gespielt - 1956 geschah dies im Rückblick auf die unmittelbare Nachkriegszeit und die Aufnahme der vertriebenen "Volksdeutschen" und "displaced persons" nach 1945, wie Graf schildert. Dabei habe es sich um rund 100.000 Personen gehandelt, wobei nicht klar sei, ob alle auf Dauer im Land blieben.
Ein großer Unterschied zur Situation heute war 1956/57 allerdings die Aufnahmebereitschaft anderer Länder, besonders der USA. "Der Antikommunismus spielte eine große Rolle", sogar US-Vizepräsident Richard Nixon habe damals die Ungarn-Flüchtlinge besucht. Für Österreich sei indes von Anfang an klar gewesen: "Die reisen nur durch, die bleiben nicht." Auf dem Höhepunkt des Flüchtlingsstroms Mitte November kam es entsprechend bald zu den Rufen: "Wir sind überfordert, wir brauchen Hilfe, die internationale Gemeinschaft soll uns helfen." Diese Hilfe war in der Tat groß: Die USA nahmen 38.000, Kanada 25.000 und Großbritannien 20.000 Ungarn-Flüchtlinge auf. Immerhin 30.000 verblieben allerdings weiterhin in Österreich, wobei "viele von diesen schon vorher (und nicht erst 1956, Anm.) gekommen waren", wie Graf festhält.
Warum gerade die Ungarn-Flüchtlinge besonders in Erinnerung blieben, nicht aber später Flüchtlingsströme aus der Tschechoslowakei oder Polen, führt Graf vor allem auf die große Zahl jener Ungarn, die hiergeblieben sind, zurück. Außerdem habe der Flüchtlingszustrom 1956 erst sehr kurz nach der Besatzungszeit stattgefunden und sei auch ein erster Prüfstein der Neutralität gewesen.
Tschechoslowakische "Touristen"
Der Ablauf der Ereignisse 1968 und 1981 habe sich zudem deutlich von 1956 unterschieden: Zuerst einmal im "Ausmaß der Gewalt", wie Graf sagt. "Wenn Leute vor rollenden Panzern um ihr Leben fliehen, wurde das ganz anders gesehen, als wenn sie mal in Österreich geblieben sind und geschaut haben, was in ihrem Land passiert." Die tschechoslowakischen Bürger, die Asyl beantragten, seien von Anfang an in der Öffentlichkeit als "Touristen" bezeichnet worden, da sie oft als solche eingereist waren. Viele von ihnen kehrten auch recht bald in die Tschechoslowakei zurück. Noch deutlich distanzierter sei die Sicht auf die Polen gewesen, die zudem oft bereits vor Ausrufung des Kriegsrechts nach Österreich gekommen waren. "Diese wurden allgemein als Wirtschaftsflüchtlinge betrachtet", berichtet Graf. "Die Solidarität mit der Solidarnosc war auch nicht sehr groß."
Schon bei den Polen habe es eine Rolle gespielt, dass sie nicht aus einem Nachbarland eingereist waren. In späteren Jahrzehnten kamen dann Flüchtlinge aus noch weit exotischeren Ländern, etwa Vietnam oder Uganda. Diese seien aber in sehr geringer Zahl eingereist, und ihre Aufnahme sei wenig erforscht, beklagt der Historiker. Insgesamt könne man sagen, dass jahrzehntelang Flüchtlingsgruppen hauptsächlich aus einem "für den Österreicher, die Österreicherin nachvollziehbaren Raum" kamen.
Das Gespräch führte Petra Edlbacher/APA