Kann Entwicklungshilfe Migration tatsächlich stoppen?
Nicht selten wird Entwicklungszusammenarbeit (EZA) von Ministerien und Politikern wie eine heiße Kartoffel behandelt, man schiebt sie sich gegenseitig zu, niemand will sich die Finger damit verbrennen. Mit der Zunahme der Flüchtlingsbewegungen scheint "Entwicklungshilfe" aber an Attraktivität zu gewinnen, soll sie doch Migration "eindämmen", so heißt es. Doch kann sie das wirklich? Und "darf" sie das überhaupt? APA-Science hat mit Experten gesprochen und Studien durchforstet, um diese Fragen zu beantworten.
Aufgrund der definierten Aufgabenstellung gehört "Migrationsverhinderung" eigentlich nicht zu den Zielen klassischer Entwicklungszusammenarbeit, erklärt Walter Schicho vom Institut für Internationale Entwicklung an der Universität Wien. Sensibel ist dabei freilich generell die definitorische Frage zur EZA. In einer Studie des Deutschen Institutes für Entwicklungspolitik (DIE) heißt es, "im allgemeinen Verständnis" diene sie dazu, "Länder in ihren Bemühungen um soziale und wirtschaftliche Fortschritte zu unterstützen". Für die AG Globale Verantwortung, Dachorganisation österreichischer entwicklungspolitischer NGOs, ist die Bekämpfung von Armut oberstes Ziel jeglicher Entwicklungsanstrengungen.
Die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen in Entwicklungsländern ist wohl der kleinste gemeinsame Nenner in der Diskussion um die Definition, was EZA erreichen soll und muss. Doch warum investieren westliche Länder in den "globalen Süden"? Der Grundgedanke der EZA ist eigentlich normativ, humanitär begründet: Wir, als Gewinner der Industrialisierung und Globalisierung sind moralisch zur Solidarität verpflichtet. Doch nicht erst seit der Diskussion über Migrationseindämmung spielen Eigeninteressen in der Entwicklungshilfe eine Rolle.
Schon lange ist klar: Humanitäre Investitionen in Entwicklungsländer helfen nicht zuletzt den wohlhabenden Staaten selbst. Sie bringen idealerweise Stabilität in ein Land, welches in Folge weniger Unsicherheit =Terrorismus exportiert; gleichzeitig kann die Wirtschaft wachsen, was sich wiederum positiv auf die europäische Exportwirtschaft auswirkt. Und gerade jetzt noch wichtiger: Aus stabilen Entwicklungsländern, die den Menschen Zukunftsperspektiven bieten, sind auch weniger Menschen zur Flucht gezwungen. EZA hatte und hat deshalb schon immer ein gewisses Eigeninteresse. Martin Ledolter, Geschäftsführer der Austrian Development Agency (ADA), sagt ganz klar: "EZA ist nicht selbstlos."
Entwicklungshilfe schafft mittelfristig Reiz zum Auswandern
Wissenschaftlich gibt es allerdings keinen Beleg dafür, dass Entwicklungshilfe Migration eindämmt. Im Gegenteil. Es gibt Studien, die zeigen, dass durch Entwicklungshilfe kurz- bis mittelfristig sogar mehr Menschen auswandern. Warum? Migration ist selektiv. Wer auswandert, gehört nicht zu den "Ärmsten der Armen", denn: Flucht braucht Geld - und zwar ziemlich viel. 4.000 bis 5.000 Dollar legt ein Flüchtling in Afrika hin, um per Schlepper nach Italien zu kommen. Kriegsflüchtlinge aus Syrien berichten sogar von bis zu 8.000 Dollar für die Überfahrt von der Türkei nach Europa. Dies kann sich nur jemand leisten, der eben nicht in "extremer" Armut (laut Weltbank-Definition von weniger als einem Dollar pro Tag) lebt. Ebendiese extreme Armut will EZA bekämpfen, wie auch in den Nachhaltigen Entwicklungszielen (SDGs) von der UNO festgehalten wurde.
Schafft EZA also erst diese "migrationsfähige" Schicht? Nein, sagt Friedbert Ottacher, Experte für Entwicklungspolitik. Es sei zynisch, EZA dafür verantwortlich zu machen, dass es mehr Migranten gibt, erklärt er gegenüber APA-Science. Ähnlich Dirk Messner, Direktor des DIE: Es sei "zynisch und menschenverachtend" so gegen EZA zu argumentieren. Für Messner ist es ein "Trugschluss, Menschen dann lieber im Elend belassen, damit sie unsere europäische Wohlstandsidylle nicht stören", denn: Wo Entwicklung kollabiert, Menschen keinen Weg aus der Armut finden, Staaten zerfallen, entsteht Gewalt und Krieg. Hier kommt freilich wieder das (sicherheitspolitische) Eigeninteresse ins Spiel...
Studie: EZA um Migration zu stoppen zum Scheitern verurteilt
Trotzdem, für die heute unter Politikern populäre Annahme, dass Entwicklungshilfe signifikant weniger Menschen davon abhält, ihr Land zu verlassen, gibt es keinen Beweis. Warum Programme, die sich dieser Hypothese verschrieben haben, zum Scheitern verurteilt sind, begründet der niederländische Migrationsexperte Hein de Haas in einem Paper für die Universität Oxford wie folgt: Im Normalfall sind EZA-Projekte zu wenig umfassend und von zu kurzer Dauer, um dahin gehend wirklich effektiv zu sein. Der Wissenschafter ortet in entwicklungspolitischer Migrationspolitik außerdem eine "versteckte Agenda" der Rückführung von illegal Eingereisten oder abgelehnten Asylwerbern. Auch die Kohärenz zwischen Theorie und Praxis lasse zu wünschen übrig - Armutsbekämpfung ist das übergeordnete Ziel von Entwicklungspolitik, ein Großteil der Migranten kommt aber nicht aus den Ländern, die EZA unterstützt.
Dies trifft zumindest teilweise auch im Falle Österreichs zu. Blickt man exemplarisch auf den afrikanischen Kontinent, zeigt sich folgendes Bild: Die Regierung legt im Dreijahresprogramm der österreichischen Entwicklungspolitik unter anderem Schwerpunktländer fest. Im Falle Subsahara-Afrikas sind dies aktuell Burkina Faso, Mosambik, Uganda und Äthiopien. Die Zahl von Migranten aus diesen Ländern ist hierzulande aber sehr gering. Aus Burkina Faso gab es im vergangenen Jahr gerade mal einen Asylantrag, aus Äthiopien 65, aus Uganda elf und aus Mosambik seit zehn Jahren nicht einen einzigen. "Man könnte auch sagen, dass unsere EZA dort so erfolgreich ist, dass niemand auswandern muss", versucht ADA-Chef Ledolter zu rechtfertigen.
Diaspora als Motor wirtschaftlicher Entwicklung
Dabei unterstützen gerade Auswanderer den Entwicklungsprozess in ihrem jeweiligen Land. Emigration reduziert die Arbeitslosigkeit in den Herkunftsländern. Gleichzeitig tragen die erheblichen finanziellen Transfers, die Ausgewanderte jährlich in ihre Heimat zurückschicken, zur Verringerung von Armut bei und kurbeln die dortige Wirtschaft an. Diese sogenannten Remittances betragen jährlich weit mehr als die Mittel für öffentliche Entwicklungshilfe (Official Development Assistance, ODA): 2006 beliefen sich die Rückflüsse auf 206 Milliarden US-Dollar, die ODA auf nur 100 Milliarden, wie ein OECD-Bericht zeigt. Friedbert Ottacher, lange Jahre selbst in Entwicklungsprojekten tätig, meint, dass die Remittances bereits viermal so hoch sind wie die globalen Mittel für EZA.
Diese migrationsbedingte Entwicklung übernimmt damit bereits jetzt bis zu einem gewissen Ausmaß die Aufgabe von Entwicklungszusammenarbeit. Durch den dank Remittances größeren Wohlstand werden Anreize auszuwandern minimiert, so dass "Migration paradoxerweise eine Medizin gegen Migration" wird, wie es Experte de Haas formuliert. Migration und Entwicklung sind also funktionell und wechselseitig verbundene Prozesse.
Allerdings, so hält auch die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) fest, müsse es gelingen, einen Großteil der Mittel in Bildung und Gesundheitsvorsorge zu lenken, anstatt - wie derzeit üblich - in Konsum, damit nachhaltige Effekte gesichert werden können. Auch Afrika-Experte Schicho warnt vor allzu großem Optimismus: Einerseits würden die Mittel, die als Remittances zurückfließen, zumeist unter extrem schlechten Bedingungen im Norden erarbeitet (Stichwort Ausbeutung). "Andererseits nehmen nicht wenige diese Transfers als eine doppelte Entschuldigung: sie helfen ihnen, Migration als etwas Positives darzustellen, und das ist verlogen und unsinnig. Migration ist nur in Ausnahmefällen ein Gewinn für die Beteiligten (auf beiden Seiten) - zumeist ist es ein Muss und geschieht unter schlechten bis schlechtesten Voraussetzungen und Bedingungen", sagt Schicho im Gespräch mit APA-Science. De Haas schlägt in die gleiche Kerbe: Unter anderem würde die immer restriktiver werdende Einwanderungspolitik das große Potenzial von Migration behindern.
EZA muss Rahmenbedingungen für Entwicklung schaffen
Auch wenn Migration selbst Entwicklung fördern kann. Die EZA behält ihre Daseinsberechtigung mit der Aufgabe, für entsprechende Rahmenbedingungen zu sorgen und die Einhaltung von Menschenrechten sicherzustellen. Anneliese Vilim, Geschäftsführerin von "Globale Verantwortung" nennt hier "peace building" und "good governance" als zentrale Faktoren bei der Verbesserung der Rahmenbedingungen. Gemeinsam mit Maßnahmen im Bereich Gesundheit, Bildung und Infrastruktur würde dies "direkt" zur Abschwächung von Migrationszwängen einwirken. Leider wird diese Kernaufgabe der Entwicklungszusammenarbeit aber immer wieder auch durch internationale Handelsabkommen und ungleiche Handelshemmnisse, die die Länder des globalen Südens oft benachteiligen, untergraben.
Von Entwicklungszusammenarbeit kurzfristig "Wunder" zu erwarten, sei aber unsinnig, sind sich die Experten einig. EZA könne etwas dazu beitragen, das Migrationsproblem anzugehen, aber nur mittel- oder sogar nur langfristig. Sowohl Ottacher als auch Schicho kritisieren die Verquickung von EZA und Migration bzw. die Instrumentalisierung von EZA, wie es derzeit auch durch die österreichische Bundesregierung, aber auch durch die EU, passiert. "Migrationsabwehr" diene in der eigenen Öffentlichkeit als "wirksame Begründung für Gelder, die in die EZA fließen", sprich, als Rechtfertigung für die Aufwendung von Steuergeldern, meint Schicho.
"Wenn wir die globale Armut wirkungsvoll bekämpfen wollen, dürfen wir unsere Hilfe nicht an Bedingungen knüpfen. Genau das geschieht jedoch in der aktuellen Diskussion. (...) Heute wird der Eigennutz auf allen politischen Ebenen offen thematisiert: EZA-Gelder soll es nur mehr gegen Rücknahmeabkommen, Grenzschutzmaßnahmen und Ähnliches geben. Die staatliche EZA wird an die kurze Leine genommen und an den sicherheitspolitischen Interessen der Geber ausgerichtet", so Ottacher.
So gesehen ist Entwicklungspolitik auch, aber eben nicht nur, ein Instrument zur Bekämpfung von Fluchtursachen. Sie sollte ein umfassendes Instrument der Friedenspolitik in einer global vernetzten Schicksalsgemeinschaft sein. Dazu braucht es aber nicht nur EZA, sondern große, politische Lösungen, die in vielen Konfliktgebieten derzeit in großer Ferne liegen.
Von Christina Schwaha / APA