Wolfgang Lutz: "Migrationsraten haben global gesehen nicht zugenommen"
Wolfgang Lutz leitet seit 1994 das "World Population Program" am Internationalen Institut für angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg bei Wien, ist seit 2002 Direktor des Instituts für Demographie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) sowie Professor für Sozialstatistik an der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien. Im Interview mit APA-Science erklärt der Wiener Demograph, wo es in Bezug auf Migration am meisten Forschungsbedarf gibt und wie die derzeitige Migrationsbewegung Österreich und (Mittel-)Europa verändern wird.
Seit kurzem leitet Lutz auch das in einer Forschungspartnerschaft des IIASA und des Joint Research Centre (JRC) der Europäischen Kommission gegründete "Centre of Expertise on Population and Migration" gemeinsam mit Delilah Al-Khudhairy, Chefin der Politikberatung im JRC. Das Zentrum wurde im Rahmen einer neuen Initiative der EU-Kommission ("Knowledge Centre for Migration and Demography") ins Leben gerufen, mit der politische Entscheidungen der EU auf eine bessere Wissensbasis gestellt werden sollen.
APA-Science: Der Themenkomplex Migration/Flucht/Asyl wird in der Öffentlichkeit mitunter stark kontrovers diskutiert. Was sind aus Ihrer Sicht die häufigsten Missverständnisse und Vorurteile? Welche Rolle kann/soll hier die Wissenschaft einnehmen?
Wolfgang Lutz: Die Rolle der Wissenschaft ist es in erster Linie, möglichst objektive und differenzierte Informationen zu liefern. Es hat sich in der Vergangenheit ganz klar gezeigt, dass unterschiedliche Gruppen von Migranten sich unterschiedlich leicht integrieren. Dabei spielen Bildung und kulturelle Nähe sicher ganz wichtige Rollen. Wenn man sich das Wiener Telefonbuch durchschaut, so ist die Zahl von ursprünglich slawischen oder auch ungarischen Namen enorm groß. Das geht zum Teil auf Zuwanderung noch zur K.u.K.-Zeit zurück. Aber auch die große Zahl von 1956 nach Österreich geflohenen Ungarn kann man heute kaum noch als gesonderte Gruppe identifizieren.
Ähnliches gilt für die muslimischen, oft hochgebildeten Zuwanderer aus dem Iran, die meist in den1970er Jahren kamen. Es gibt viele iranischstämmige Wissenschaftler, Ärzte, Rechtsanwälte und sogar Kabarettisten, die heute ein kaum wegzudenkender Teil der Wiener Gesellschaft sind. Die schon früher als Gastarbeiter nach Österreich gebrachten Türken sind dagegen in der Regel schlechter integriert. Man hat damals ja auch bewusst die am wenigsten gebildeten Menschen aus Anatolien angeworben, in der Hoffnung, dass sie brav "hackln" und keine Fragen stellen. Da ist es nicht verwunderlich, dass auch ihre Kinder oft noch Schwierigkeiten bei der Integration haben. Besser gebildete Menschen, die heute neu ins Land kommen, haben nicht nur Vorteile bei der Jobsuche, sie lernen einfach in jeder Hinsicht schneller, die neuen Lebensbedingungen zu verstehen. Das gilt auch für das Erlernen einer neuen Sprache.
APA-Science: Woran arbeiten Sie in dem neuen Forschungszentrum für Migrationsforschung derzeit konkret - und mit welchen Methoden? Welche Ziele verfolgen Sie kurz- und langfristig?
Lutz: Die gerade neu begonnene Zusammenarbeit zwischen dem IIASA und den Joint Research Centres (JRC) der Europäischen Kommission begründet ein zunächst auf drei Jahre befristetes Projekt, für das jede Seite fünf Wissenschaftler zur Verfügung stellt. Konkret geht es darum, die längerfristigen Auswirkungen alternativer Szenarien der zukünftigen Zuwanderung nach Europa auf die Struktur der europäischen Bevölkerung zu analysieren. Dabei geht es nicht nur um die Altersstruktur der Bevölkerung, sondern auch um die Bildungsstruktur und die Erwerbsbeteiligung. Anders ausgedrückt heißt das, dass wir nicht nur unterschiedliche Annahmen zur Zahl der Zuwanderer analysieren, sondern auch z. B. die jeweiligen Auswirkungen von höher oder geringer gebildeten Zuwanderern auf die Wirtschaft und unsere sozialen Sicherungssysteme untersuchen. Wir verwenden dabei die im Laufe der Jahre am IIASA entwickelten Methoden der multi-dimensionalen demografischen Analyse. Das Projekt berechnet zusätzlich auch unterschiedliche Szenarien für ausgewählte Länder in Afrika und West-Asien, die als Ursprungsländer von Migration in Betracht kommen.
APA-Science: In welchen Bereichen rund um Migration herrscht ganz allgemein der größte Forschungsbedarf?
Lutz: Die Migrationsforschung ist zwar der politisch sensibelste Bereich der Demografie, gleichzeitig gibt es dabei aber den größten Mangel an verlässlichen Daten. Während Geburten und Todesfälle umfassend von den Standesämtern registriert werden, ist das bei den Migrationsbewegungen häufig nicht der Fall. Und selbst wenn man die Zahl der Migranten kennt, weiß man oft nicht, um wen es sich dabei handelt, z. B. welche Ausbildung und welchen Beruf die Menschen haben, welcher Religion sie angehören und welche Sprache sie sprechen. Mehr und bessere Daten sind also die erste Priorität. Was die Forschungsgebiete betrifft, so ist eine der wichtigsten Fragen, welche Faktoren die Integration fördern und wie hoch die Aufnahmefähigkeit der jeweiligen Zielländer ist.
APA-Science: Hätte die Wissenschaft die große Flüchtlingsbewegung der letzten paar Jahre besser prognostizieren können/sollen?
Lutz: Ja, im Nachhinein wundert man sich, dass die Politik so unvorbereitet war. Millionen Syrer waren ja schon länger in Flüchtlingslagern in den Nachbarländern Syriens, nur hat man offenbar nicht damit gerechnet, dass sie sich plötzlich auf der Balkanroute auf den Weg nach Mitteleuropa machen. Auch war die Bekämpfung von Fluchtursachen bisher kaum ein explizites Thema in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Das hat sich jetzt im letzten Jahr geändert. Der Nahe Osten und auch Afrika sind jetzt viel stärker in das Bewusstsein der Europäer gedrungen. Früher hat man sie als weit weg liegende Länder gesehen, deren Probleme im besten Fall humanitäre Organisationen berührten. Jetzt liegen sie plötzlich vor unserer Haustüre und ihre Probleme betreffen uns viel direkter.
APA-Science: Wie wird die derzeitige Migrationsbewegung Österreich und (Mittel-)Europa verändern?
Lutz: Die an unserem Institut erstellten Statistiken zu weltweiten Migrationsströmen über die letzten 20 Jahre zeigen, dass die Migrationsraten global gesehen im Zeitverlauf gar nicht zugenommen haben. Das steht im Gegensatz zu dem von den Medien vermittelten Eindruck eines "Migrations-Tsunamis". Es hat auch in Österreich in der jüngeren Geschichte immer wieder Zuwanderungswellen gegeben - die letzte zur Zeit des Jugoslawien Kriegs. Nach einigen Jahren waren die Menschen dann aber meist recht gut integriert. Ob das auch diesmal so sein wird, hängt auch zum Teil davon ab, wie viele Flüchtlinge jetzt noch nachkommen. Bleibt es so, wie es sich derzeit darstellt, so wird die Flüchtlingswelle des letzten Jahres vermutlich recht gut verkraftet werden. Da die Bevölkerung in Afrika aber noch massiv weiter wächst und man mit dem Schaffen neuer Arbeitsplätze dort kaum nachkommt, da zusätzlich noch Klimawandel und mögliche politische Unruhen dazukommen, müssen wir auch in Zukunft mit einem sehr hohen Migrationspotenzial rechnen. Es ist hoch an der Zeit, dass Europa eine rationale, langfristig orientierte und realistisch durchsetzbare Migrationspolitik entwickelt.
Das Interview führte Mario Wasserfaller / APA-Science