"Zur Konstruktion eines virtuellen Opfermythos in digitalen Spielen"
Das letzte Mal, dass ausländische Truppen in die Vereinigten Staaten einfielen, geschah im Zuge des Britisch-Amerikanischen Krieges 1812-1814. Die britische Invasion fand im letzten Kriegsjahr ihren Höhepunkt in der Zerstörung Washingtons. Seitdem - also immerhin mehr als zwei Jahrhunderte lang - blieben die USA von weiteren militärischen Invasionen verschont. Das heißt auch, dass mehr als 200 Jahre lang und über die Dauer zweier blutiger Weltkriege amerikanische Erdnussbauern, Drehbuchautorinnen und Stahlarbeiter jeden Abend mehr oder weniger unbesorgt mit ihrer Familie in ihrem Zuhause zu Abend essen konnten.
Insofern mag es doch überraschen, dass die USA in Computerspielen überdurchschnittlich häufig ausgesprochen aggressiven und skrupellosen ausländischen Invasoren zu Opfer fallen. In den First-Person Shootern "Homefront" (2011) und "Homefront: The Revolution" (2016) gelingt es beispielsweise den Streitkräften der nordkoreanischen Volksarmee, rasch an der amerikanischen Westküste Fuß zu fassen. In "Call of Duty: Ghosts" (2013) erobert eine südamerikanische "Konföderation" große Teile der südlichen Bundesstaaten und droht nach einem längeren Stellungskrieg, auch den Rest der Vereinigten Staaten zu erobern. Zum Schutz gegen die Konföderation haben die USA im Spielnarrativ übrigens eine mehrere hundert Kilometer lange "Liberty Wall" gebaut. In "Call of Duty: Modern Warfare 2" (2009) und "Call of Duty: Modern Warfare 3" (2011) sind es schließlich die Russen, welche ohne Vorankündigung die Ostküste überfallen und in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Washington D.C. dem Erdboden gleich machen. Alle genannten Szenarien verbindet, dass der Angriff überraschend und unprovoziert stattfand und dass sich die Invasoren durch eine unmenschliche Grausamkeit der Zivilbevölkerung gegenüber auszeichnen. Dabei handelt es sich ausnahmslos um sogenannte Triple-A-Games (also Spiele mit einem Entwicklungs- und Marketingbudget im mehrstelligen Millionenbereich). "Call of Duty: Modern Warfare 3" verkaufte sich innerhalb von zwei Jahren 26 Millionen mal.
Der Grund für die häufige Opferrolle der USA und die geradezu unmenschliche Grausamkeit der Gegner in diesen Computerspiel-Kriegsszenarien ist, dass so der Einsatz aller militärischer Mittel gerechtfertigt erscheint und zugleich eine klare Aufteilung in Gut und Böse gegeben ist, die bei vielen historischen Konflikten, wie zum Beispiel dem Vietnam- und dem Afghanistankrieg, nicht so eindeutig zu argumentieren gewesen wäre. Es handelt sich bei allen genannten Spielen ganz augenscheinlich um fiktive Szenarien, die in einer mehr oder weniger fernen dystopischen Zukunft angesiedelt sind. Wir dürfen auch davon ausgehen, dass die SpielerInnen im Normalfall zwischen Fiktion und Realität unterscheiden können. Trotzdem finden beim Spielen immer auch psychologische Transferprozesse statt, wir werden im Umgang mit Spielen ebenso wie mit anderen populärkulturellen Massenmedien "sozialisiert" und bekommen konkrete Weltbilder und Moralvorstellungen vermittelt. Nicholas Kiersey hat deutlich gemacht, dass unsere Populärkultur sogar nachweisbaren Einfluss auf das Feld der Internationalen Beziehungen nehmen kann.
Der Austausch zwischen Populärkultur (Computerspielen) und dem politischen Diskurs ist naturgemäß ein wechselseitiger. Spiele übernehmen Aussagen aus dem politischen Diskurs und die Politik wiederum übernimmt rhetorische Argumentationsschienen aus der Populärkultur. Die "Liberty Wall" aus "Call of Duty: Ghosts" ist hierfür ein schönes Beispiel. Natürlich ist allen SpielerInnen klar, dass die Gefahr einer nordkoreanischen, russischen oder venezolanischen Invasion nicht wirklich gegeben ist. Es könnte ihnen zugleich aber plausibel erscheinen, dass alle drei genannten politischen Akteure sehr wohl an einer solchen Invasion interessiert wären, wenn sie die Mittel dazu hätten. Denn auch außerhalb der martialischen Weltbilder digitaler Kriegsspiele feiert heute die Selbstinszenierung als Opfer Erfolge. In den vergangenen Jahren haben insbesondere rechtspopulistische Parteien die Wirkungskraft von solch inszenierten Opfermythen bewiesen, die geschickt in den Dienst einer zu konstruierenden (nationalen) kollektiven Identität gestellt wurden. Man stilisiert sich zum Opfer der "EU", auch wenn man aktiv die Geschicke der Union mitgestaltet. Oder es sind die anderen, die Fremden, die Flüchtlinge, die angeblich die eigene Identität bedrohen. Gerade in der Konstruktion nationaler Identitäten hat sich der Rückgriff auf einen gemeinsamen Opfermythos - die mediale Inszenierung und das ritualisierte Erinnern eines vergangenen Unrechts - als besonders erfolgreich erwiesen. Die Konstruktion eines Opfermythos, der in einer fiktiven oder realen Vergangenheit fußt, rechtfertigt eine Politik der Stärke in der Zukunft, oder wie Tzetvan Todorov es geschrieben hat: "[...] denn Opfer gewesen zu sein gibt [den Menschen] das Recht, sich zu beklagen, zu protestieren, Ansprüche zu stellen." Die vergangene Schmach, die regelmäßig in den Medien reproduziert werden muss, um in unserer kollektiven Erinnerung aufrecht gehalten zu werden, dient dazu, auf breiter Basis gleiche Emotionen zu erwecken, die wiederum die Grundlage für eine einschlägige Politik werden. Dabei ist wesentlich, dass die Haltung des Opfers, wie Paul Ricoeur meint, "ein gewaltiges Privileg [schafft], das dem Rest der Welt die Position des Schuldners zuweist." Der Opferstatuts legitimiert politische Ansprüche, die sich anders nicht stellen lassen, Einschränkungen der Menschenrechte, ja in letzter Konsequenz selbst das letzte Tabu der Internationalen Beziehungen: Angriffskriege.
Die genannten Computerspiele zeigen aber auch, dass die heutigen Spiele natürlich nur vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Politik zu verstehen sind. Der Opfermythos wird immer mehr zum zentralen Rechtfertigungsgrund für virtuelle Gewalt in Spielen. Zentrale Aussage ist, dass aufgrund einer internen Schwäche der USA dem Land die zu starke Abhängigkeit von ausländischen Ölreserven ("Call of Duty: Ghosts" und "Homefront") oder eine zu starke Abhängigkeit von ausländischen Hightech-Produkten ("Homefront: The Revolution") zum Verhängnis wird. Da die Aggressoren auch nicht davor zurückschrecken, auf unlautere Mittel zurückzugreifen (die Ermordung von Zivilisten in einem vorgeblich amerikanischen Terrorangriff, Atombomben, andere Massenvernichtungswaffen, Massenhinrichtungen, Gehirnwäsche usw.) erscheint jedes Mittel probat, um sich zu schützen. Es ist eine erschreckend simple Geschichte. Und es ist nicht so sehr die Gefahr, dass konkrete Länder so als Bösewichte ins kollektive Gedächtnis wandern - von dort kamen die meisten bereits -, sondern dass die Konfliktlösungsansätze (Bewaffnung der Zivilbevölkerung, Widerstand gegen Marionettenstaaten, sogenannte Covert Operations und Präventivangriffe) hier von einer Mehrheit der Bevölkerung erlernt werden. Das Aushebeln demokratischer Grundrechte erscheint zumindest kurzfristig gerechtfertigt. Vor diesem Hintergrund erscheint es vielleicht nicht mehr ganz so unverständlich, wie es ein Donald Trump mit seiner Belagerungsrhetorik geschafft hat, massenweise WählerInnen für sich zu gewinnen. Natürlich haben wir es hier nicht mit einer unilateralen Kausalität zu tun. "Call of Duty"-SpielerInnen wählen nicht alle Trump, die rhetorischen Mittel und Schlüsse sind aber die gleichen, die sich immer wieder und nicht nur in den USA, sondern auch in Europa finden, zuletzt im Zuge der sogenannten Refugee-Krise: Von Belagerung und Eroberung ist die Rede. Vom Eindringen in die eigenen vier Wände. Die Einheimischen werden zu Opfern.