Grundlagenforschung als Zukunftsversicherung
Klement Tockner ist seit 1. September 2016 Präsident des Wissenschaftsfonds FWF. In der Grundlagenforschung sieht der Gewässerökologe einen großen Freiraum, der aber noch zu wenig genutzt werde. Warum die öffentliche Hand zu Recht die Verantwortung für die Finanzierung der Grundlagenforschung tragen soll und ob man heute tatsächlich noch frei und ergebnisoffen forschen kann, erläuterte Tockner im Gespräch mit der APA.
APA: Was ist Grundlagenforschung?
Klement Tockner: Grundlagenforschung ist für mich eine Versicherung, um uns für jene großen Herausforderungen der Zukunft zu wappnen, die wir zumeist noch gar nicht kennen. Ergänzend dazu befasst sich die angewandte Forschung mit den Problemen, die wir jetzt haben. Insofern braucht es beide: Grundlagen- und angewandte Forschung. Zudem ist Grundlagenforschung Voraussetzung für Innovation, die ja nicht planbar ist. Und weil Innovation zumeist von den Rändern kommt, muss Grundlagenforschung auch ausufern dürfen, um so in Bereiche hineinzugehen, wo sich sonst kaum jemand hineinwagt. Schließlich bildet Grundlagenforschung kreative Menschen aus, die bereit sind, neue Wege zu gehen und Risiko auf sich nehmen.
APA: Die Prämie für die "Versicherung" Grundlagenforschung begleicht der Steuerzahler - muss das so sein?
Tockner: Es gibt drei wesentliche Gründe, warum die öffentliche Hand hier Verantwortung trägt: Einerseits geht es um Risiko, weil die Grundlagenforschung dort tätig ist, wo es die Industrie normalerweise noch nicht ist. Und das wiederum hilft der Wirtschaft. Dann geht es um die Längerfristigkeit, denn Grundlagenforschung liefert nicht sogleich ein Produkt. Und schlussendlich ist das so generierte Wissen Allgemeingut - Wissen, das der Gesellschaft offen zur Verfügung steht.
APA: Was ist dann mit dem Institut für Molekulare Pathologie (IMP) in Wien, wo ein Unternehmen - Boehringer Ingelheim - ein reines Grundlagenforschungsinstitut finanziert?
Tockner: Innovative Firmen wie Boehringer Ingelheim wissen natürlich, dass man, um wirklich die Nase vorne zu haben, Durchbrüche in der Wissenschaft braucht. Zudem zieht man mit so einem Institut die besten Köpfe an, und somit auch deren Ideen. Dort entsteht ein innovatives Umfeld, das die kreativsten Talente fördert - und das geht nur, wenn inhaltlich nicht eingegriffen wird. Da unterscheiden sich führende Industrieunternehmen kaum von den besten Forschungsinstituten.
APA: Warum tun das nicht mehr Unternehmen?
Tockner: Das müssen Sie die Firmen fragen. Manche Unternehmen haben Forschungsinstitute integriert, anderen fehlt vielleicht auch eine gewisse Vision. Es ist jedenfalls ein mutiger Schritt eines führenden Industrieunternehmens, ein unabhängiges Grundlagenforschungsinstitut zu etablieren - und dabei keine Angst haben, dass einem dadurch die Ideen abhandenkommen.
APA: Wie ist es denn heute um die Grundlagenforschung bestellt?
Tockner: Wir haben in Österreich und in Europa einen großen Freiraum. Den nutzen wir leider zu wenig, um etwa langfristige Projekte anzugehen und besonders herausfordernde Ideen zu verfolgen. Es ist ein Auftrag an jene Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die eine permanente Stelle besetzen, nicht in Dreijahresschritten zu planen, sondern groß und langfristig zu denken und Themen aufzugreifen, deren Ausgang nicht absehbar ist. Und oft sind dann die Späne, die dabei abfallen, spannender als die ursprünglichen Pläne.
APA: Kann man denn heute tatsächlich noch frei und ergebnisoffen forschen, schränken nicht Rahmenbedingungen wie Publikationsdruck, Drittmitteleinwerbung, etc. zunehmend diese Freiheit ein?
Tockner: Das ist ein guter Punkt. Es gibt sicher Erwartungshaltungen, die man glaubt, erfüllen zu müssen. Es gibt zudem auch eine Angst, den Kopf rauszustrecken und neue Wege zu gehen. Mit den üblichen Indikatoren wie Publikationen, Drittmittel, usw. legen wir uns als Wissenschaftsgemeinschaft teilweise selbst Fesseln an - und beschweren uns dann noch über diese Fesseln.
APA: Ein junger Wissenschafter tut sich aber schwer, diese Fesseln abzustreifen.
Tockner: Tatsächlich ist es Mode, zu maximieren, etwa indem man sich in große Teams einklinkt und Modethemen bearbeitet - aber das darf nicht das Ziel sein. Als ich in Berlin das Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei geleitet habe, habe ich nie vorgegeben, wieviel die Mitarbeiter publizieren oder einwerben müssen. Ich habe sie einfach aufgefordert: Macht das Beste und wirklich Spannendes, auch wenn es fünf Jahre dauert. Da war am Anfang der Stress gar größer, so ohne buchhalterische Vorgaben auszukommen. Aber am Ende entstand dadurch eine Kultur, in der viel mehr gewagt wurde und das Institut ist aufgeblüht.
APA: An den Universitäten gibt es Rahmenbedingungen wie ein indikatorgebundenes Budget, wo man das nicht so einfach umsetzen kann.
Tockner: Die Universitäten könnten sich noch stärker als forschungsgeleitete Einrichtungen positionieren. Lehre spielt eine zentrale Rolle, aber diese muss forschungsgeleitet sein - auch in Abgrenzung zu den Fachhochschulen. In den Niederlanden oder in der Schweiz verstehen sich die Unis als Forschungsuniversitäten. In den Niederlanden, wo es mit dem NWO eine sehr gut ausgestattet Förderagentur für Grundlagenforschung gibt, ist zudem klar, dass sich die Wissenschafterinnen und Wissenschafter dem Wettbewerb um Drittmittel stellen müssen.
APA: Wie viel Prozent des Uni-Budgets werden dort im Wettbewerb vergeben?
Tockner: Etwa 70 Prozent. In Österreich haben wir dagegen 80 Prozent Grundfinanzierung. So stellen bei uns nur 20 Prozent der Wissenschafterinnen und Wissenschafter jemals einen Antrag beim FWF. Um das zu ändern, müsste man einen Kulturwandel einleiten und zugleich den FWF ähnlich gut wie die NWO ausstatten. Die nun geplante Exzellenzinitiative soll eine solche Kulturentwicklung in Gang setzen und helfen, dass fairer und transparenter Wettbewerb, wissenschaftliche Exzellenz und Spitzenforschung eine deutlich höhere Wertschätzung erfahren.
APA: Dazu müsste man aber die Finanzierung der Grundlagenforschung in Österreich massiv ausbauen.
Tockner: Die Schweiz oder Holland investieren ja weitaus mehr in die wettbewerbliche Grundlagenforschung, weil sie wissen, dass dort die Innovationen entstehen. Man muss ganz klar mehr für die Grundlagenforschung aufwenden, aber nicht unbedingt zulasten der anwendungsorientierten Forschung. Das wäre kontraproduktiv, es braucht beides. Und wir benötigen Brückenprogramme zwischen den Agenturen, um die Bereiche besser zu verbinden und Synergien zu schaffen.
APA: Wie kommt es, dass die Grundlagenforschung in Österreich vergleichsweise unterdotiert ist?
Tockner: Es fehlt zu oft an Mut und Vision, in Langfristigkeit zu investieren, da man den Erfolg nicht immer sofort erkennt. Grundlagenforschung ist sicher kein System, das man mit Traubenzucker "füttern" kann und dann sofort einen Effekt hat.
APA: Woran mangelt es der Grundlagenforschung hierzulande noch?
Tockner: Wir haben herausragende Leuchttürme in der Forschung. Diese formen sich um Top-Leute und sind international ausgerichtet. Wir sind in Österreich vielleicht nicht international genug. Wir sehen ja, dass unser Schrödinger-Programm mit Auslandsstipendien für hoch qualifizierte junge Forschende nicht voll ausgeschöpft wird. Zu wenige junge Kolleginnen und Kollegen wollen hinausgehen, Mobilität ist nicht genug entwickelt.
APA: Woran liegt das?
Tockner: Ich glaube, auch das ist eine Kulturfrage. So besteht die Sorge, weniger Chance bei einer Rückkehr zu haben. Außerdem ist die Lebensqualität hier extrem hoch. Dabei ist die Postdoc-Phase der freieste Abschnitt in der gesamten akademischen Laufbahn. Das sollte man unbedingt ausnutzen.
APA: Die Einrichtung des Schrödinger-Programms zählt sicher zu den wichtigsten Maßnahmen in der nun 50-jährigen Geschichte des FWF - welche Meilensteine gab es sonst noch?
Tockner: Der erste Erfolg war ja die Gründung des FWF. Das war schon ein visionärer Schritt damals, als viele überhaupt nicht verstanden haben, warum sie sich als Spitzenforscher plötzlich um im Wettbewerb vergebene Drittmittel bemühen müssen. Dass man dem FWF damals eine so große Unabhängigkeit gewährt hat, war ein großer Meilenstein. Zu erwähnen sind sicher auch die ausschließlich internationale Begutachtung oder die Etablierung der START- und Wittgenstein-Preise. Zu den jüngsten Meilensteinen zählen die Stabilisierung der Finanzierung und ganz aktuell das geplante Forschungsfinanzierungsgesetz, welche eine verbindliche mehrjährige Finanzierung mit einem Wachstumspfad garantieren soll.
APA: Mit dem Forschungsfinanzierungsgesetz wurde auch eine Exzellenzinitiative angekündigt. Haben Sie schon Vorstellungen, wie diese aussehen soll?
Tockner: Eine Exzellenzinitiative braucht mehrere Elemente: Einerseits muss alles getan werden, um herausragende Wissenschafterinnen und Wissenschafter anzuziehen und zu halten, etwa durch Austria Research Chairs, wo man einen Teil der Berufungen pro Jahr mit zusätzlichen Ressourcen ausstattet, so wie das Kanada mit den Canada Research Chairs oder Deutschland mit den Humboldt-Professuren macht. Das kostet nicht viel, erhöht aber massiv die internationale Sichtbarkeit. Zudem müsste man mehr Tenure-Track-Stellen (unbefristete Anstellungen, Anm.) für die kreativsten Talente schaffen.
Weiters muss die Profilbildung an und zwischen den Unis gestärkt werden. Das muss aber bottom-up passieren, das heißt aus der Community heraus kommen. Dabei geht es darum, nicht nur die Stärken zu stärken, sondern dass sich verstärkt grenz- und disziplinüberschreitende Bereiche entwickeln können. Notwendig ist auch ein starkes wissenschaftliches Infrastrukturprogramm, um international mithalten zu können.
Das Ganze muss jedenfalls ein ambitioniertes Exzellenzprogramm und kein Exzellenzprogrämmchen werden.
APA: Mit welcher Ausstattung wäre es ein Programm und kein Progrämmchen?
Tockner: Zuerst benötigt es ein überzeugendes Konzept, dann wird man über die nötigen Mittel reden. Die finale finanzielle Ausstattung ist natürlich eine politische Entscheidung und wird wahrscheinlich eine Kombination aus wirklich "frischem" Geld und einer anderen Form der Verteilung von Ressourcen sein. In Relation zu dem, was pro Jahr in den Forschungsbereich insgesamt hineingeht, wird es ein kleiner Anteil sein. Im Vergleich zu den rund zwölf Mrd. Euro, die in Österreich für Forschung aufgewendet werden, bewegt man sich für eine Exzellenzinitiative im Bereich weniger Prozente - die haben aber eine immens große Hebelwirkung für das Gesamtsystem.
Das Gespräch führte Christian Müller / APA