"'Governance durch Daten': das veränderte Verhältnis von Wissenschaft und Politik"
Eine Pandemie und die nachfolgende wirtschaftliche und soziale Krise legen vieles offen, was vorher nicht explizit im Bewusstsein war. Sie zwingt zur Neuorientierung überall dort, wo Versäumnisse sichtbar werden oder sich ein Zeitfenster auftut, in das latent vorhandene Entwicklungen beschleunigt eindringen können. So verhält es sich auch mit dem Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik.
Die Pandemie hat gezeigt, dass wissenschaftlich fundierter Rat unabdingbar ist, um anstehende politische Entscheidungen zu treffen. Sie hat auch gezeigt, wie wichtig es ist, Vorsorge nicht nur für genügend Schutzausrüstung und Intensivbetten zu treffen, sondern dass Grundlagenforschung die Voraussetzung dafür ist, Wissen verfügbar zu haben wenn es gebraucht wird. Für die Bevölkerung wurde die Wissenschaft zur verlässlichen Orientierungsinstanz. Das Vertrauen in sie kehrte zurück. So manche folgten fasziniert den Ausführungen von Virologen und Epidemiologen. Man konnte auch live erleben, wie Forschung betrieben wird. Es gibt unterschiedliche Annahmen, ein tastendes Abwägen und vorsichtige Einschätzungen, was unterschiedliche Modelle an Erkenntnissen liefern können. Konsens in der Wissenschaft ist möglich, selbst wenn sich deren Vertreter*innen nicht immer einig sind. Die Öffentlichkeit konnte zumindest teilweise zusehen, wie Wissenschaft die Politik in deren Entscheidungen unterstützt, und letztere wurde nicht müde zu betonen, dass sie auf die Wissenschaft und ihre Expert*innen hört.
Ein Idealfall also? Es konnte nicht lange anhalten. Die Wissenschaft musste freimütig zugeben, was sie alles zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht weiß. Das ist viel, zeigte jedoch auf, dass sie es gewohnt ist mit Ungewissheit umzugehen. Für die Politik ist Ungewissheit nicht nur dann ein Problem, wenn Entscheidungen schnell zu treffen sind. Politik will Sicherheit vermitteln um Führungsstärke zu zeigen. In den wenigsten Fällen jedoch kann die Wissenschaft die von der Politik verlangte Gewissheit liefern. Sie kann nur einschränkend antworten: 'ja, unter diesen Voraussetzungen' oder 'nein, nur wenn diese Bedingungen vorliegen'. Doch Politiker hören nicht gerne von Wahrscheinlichkeiten, von Unter- und Obergrenzen oder dass sich der Spielraum für die Interpretation nicht immer so eindeutig abgrenzen lässt, wie sie es gerne hätten. Wissenschaft kann immer nur Optionen aufzeigen, während Entscheidungen, selbst wenn sie unbeliebt sind, von der Politik zu treffen sind.
Diese Spannung tritt dann zutage, wenn die Politik Entscheidungen treffen muss, für die es keine wirklich tragfähige wissenschaftliche Grundlage gibt. Ob eine bestimmte Maßnahme 14 Tage früher oder später zum gewünschten Erfolg führt, kann niemand, auch die Wissenschaft nicht, beantworten. Während die Politik weiterhin beteuert, dem wissenschaftlichen Rat zu folgen, merkt die Bevölkerung spätestens dann, dass es doch Interpretationsspielräume gibt. Je nach Risikofreudigkeit und Vertrauen in die Politik bleibt es beim Status quo, oder die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen wird angezweifelt und Unmut macht sich breit. Nun werden auch die Kollateralschäden sichtbar, auf die weder die Wissenschaft noch die Politik Antworten haben. In dieser Phase klingt die akute Gefahr ab und das Drängen nach Normalität wächst. Gleichzeitig nehmen die Verunsicherung und Angst vor der ungewissen Zukunft zu. Was hat sich also im Verhältnis von Politik und Wissenschaft verändert? Welche vorher latent vorhandenen Entwicklungen werden nun sichtbar?
Nach der Corona-Krise kommt die Politik ohne den Anschein von evidenz-basierten, wissenschaftlich gestützten Entscheidungen nicht mehr aus. Was als Evidenz gilt und wofür sie steht, ist freilich ein weites Feld. Die Versuchung ist ebenso groß wie naheliegend, verstärkt auf formalisierte Kriterien, auf Indikatoren und Zahlen, auf Kurvenverläufe und quantifizierte Marker zu setzen. Daten sind das, was fortan als Beweis gilt. Mit Daten werden politische Entscheidungen vorbereitet, mit Daten wird ihre Legitimität erzeugt. Eine solche 'Governance durch Daten' erhält durch den durch die Corona-Krise erfolgten Digitalisierungsschub zusätzlichen Auftrieb. Daten und Simulationsmodelle, noch mehr Daten und was sich mit ihnen machen und aus ihnen ablesen lässt, sind nicht mehr wegzudenken. Daten sind zum neuen Bindeglied im Verhältnis von Wissenschaft zur Politik geworden. Fortan gelten sie als Grundlage für politisches Handeln. 'We follow the science' war während der Krise ein mancherorts beliebter Slogan, aber auch ein Deckmantel. 'We follow the data' wird es in Zukunft heißen. Das lässt der Politik viel Spielraum, den sie gut zu nützen weiß.
Nun ist allerdings das Verhältnis der Öffentlichkeit zu Daten ein sehr zwiespältiges. Befürchtungen über den mangelnden Schutz der Privatsphäre sind in Europa und in Österreich besonders stark ausgeprägt. Das stellt die Wissenschaft vor das Problem, das gestärkte Vertrauen in sie nicht wieder zu verlieren. Daten sind die Grundlage für wissenschaftliche Evidenz, kein Zweifel. Für die Wissenschaft ist es wichtig, für die Öffentlichkeit als Garant für den verantwortungsvollen Umgang mit Daten zu stehen. Im öffentlichen Leben dienen Indikatoren und eine möglichst gesicherte Datenlage als nicht weiter zu hinterfragende Grundlage für politische Entscheidungen. Transparenz der Entscheidungsprozesse ist ein wichtiges Prinzip, in der Praxis aber kaum konsequent durchsetzbar. Die schnell voranschreitende Digitalisierung verschärft das Problem zusehends, wenn formale Regelungen zu Zwangskategorisierungen führen und eine Delegation der Verantwortung nach unten erfolgt. Entlang einer Kette von Indikatoren wird sie weitergereicht. Für sich betrachtet ist jeder Schritt evidenzbasiert und folgt den Anordnungen oder Vorgaben. Statt Voraussicht wird Reaktion gefördert und alles fügt sich in eine 'Governance durch Daten' ein.
Jedes Land hat seiner politischen Kultur folgend in unterschiedlicher Weise wissenschaftliche Beratungsmechanismen und -gremien eingerichtet. Daten und ihre wissenschaftliche Auswertung stellen im Umgang mit Ungewissheit eine wichtiges Orientierungsmittel dar. 'Governance durch Daten' ist eine Strategie, mit der Ungewissheit der Zukunft umzugehen. Die Krise hat gezeigt, dass wir weniger Kontrolle über das Geschehen haben, als wir denken. Die Strategie wird jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn sie von der Bevölkerung mitgetragen wird. Wenn wir nicht den Weg zu einem aufgeklärten Datenabsolutismus einschlagen wollen, muss die Wissenschaft Zugang zu allen Daten haben, die sie für die Forschung braucht, unabhängig davon ob sie der Beratung der Politik dienen. Die Wissenschaft muss ihre Unabhängigkeit nützen, um der Politik Optionen zu vermitteln, die auf Daten beruhen, doch Daten allein können nicht alles erfassen. Sie sind immer zu interpretieren und dafür braucht es kritisches Denken - von uns allen.