Zusammenarbeit im Ausnahmezustand
"Politik und Wissenschaft haben naturgemäß ein ambivalentes Verhältnis" weiß Claudia Wild. Bestes Beispiel dafür ist der Drahtseilakt von Anthony Fauci, jenem US-amerikanischen Immunologen, der einerseits der Bevölkerung die Corona-Pandemie erklärt, andererseits Aussagen seines Präsidenten diesbezüglich relativieren oder korrigieren muss, ohne Donald Trump auf den Schlips zu treten. Dieses schwierige Verhältnis von Politik und Wissenschaft wurde während der Coronakrise auf eine harte Probe gestellt. Selten war eine produktive Zusammenarbeit dieser beiden Akteure so dringend benötigt wie während der Ausnahmesituation der vergangenen Monate. APA-Science hat bei Experten nachgefragt, ob der Versuch einer Kooperation geglückt ist.
Es war eine Bedrohung unbekannten Ausmaßes, der Österreich und weite Teile der Welt Anfang des Jahres gegenüberstanden. Das Virus war neu, unbekannt, und die wissenschaftliche Evidenz fehlte, um Entscheidungen begründet treffen zu können. Aus diesem Grund wurde vom Gesundheitsministerium eine Taskforce gegründet, die der Regierung Wissenschafter beratend zur Seite stellen sollte. Wirklich gut seien Wissenschaft und Politik in der Pandemie nicht zusammengekommen, beurteilt Martin Sprenger von der Medizinischen Universität Graz im Nachhinein die Situation: "Das lag aber an beiden Seiten, hat viele Gründe und ist nicht nur auf Österreich beschränkt." Der Mediziner wurde Anfang März vom Kabinett des Gesundheitsministers Rudolf Anschober zur Mitarbeit in der Corona-Taskforce eingeladen, verließ dieses aber nach wenigen Wochen wieder. Grund dafür war eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Bundeskanzler, doch dazu später mehr.
Taskforce war "nicht interdisziplinär genug"
"Die Diskussionen in der Taskforce waren durchwegs auf hohem Niveau, nur ab Anfang April für mich nicht interdisziplinär genug." Ein Blick auf das Protokoll einer Sitzung am 12. März zeigt: Vom teilnehmenden Beraterstab waren lediglich zwei von 14 Personen keine Mediziner. Eine solche Zusammensetzung sei laut Sprenger in der zweiten Märzhälfte verständlich gewesen. "Da galt es noch, das Infektionsgeschehen in Österreich zu erkennen, es war wichtig, dass man virologisch und intensivmedizinisch auf die Situation schaut." Bereits Ende März aber hätten Modellierungen gezeigt, "dass es sich ausgeht. Mit Ende März war Entspannung angesagt. Da wäre es halt gut gewesen, wenn Sozialwissenschafter und Wirtschaftswissenschafter zur Taskforce dazugekommen wären", so Sprenger, attestiert er der Politik fehlende Weitsicht. "Ich hatte das Gefühl, es geht halt nach wie vor nur um den Virus." Man müsse sich als Wissenschafter aber auch selber an der Nase nehmen: "Vielleicht haben wir diese Punkte selbst zu wenig oft eingefordert."
Dennoch: "In der zweiten Märzhälfte, wo das Bedrohungsszenario ganz aktuell war, hatte ich das Gefühl, da passiert gerade wirklich Sachpolitik", hebt Sprenger lobend hervor. "Im Vordergrund stand ein gemeinsames Bemühen, auf diese Bedrohung adäquat zu reagieren und Österreich vor Schaden zu bewahren."
Das Verhältnis zwischen den beiden Fraktionen ist von Natur aus angespannt. "Politik will nicht nur in akuten Situationen wie der Covid-19-Pandemie raschere Antworten, als es die Wissenschaft leisten kann. Darüber hinaus agiert Politik intuitiv und ist von Interessen getrieben, während Wissenschaft Daten und Fakten abwägt und objektiv sein will", so Claudia Wild, Leiterin des HTA Austria - Austrian Institute for Health Technology Assessment (AIHTA), die vom Gesundheitsministerium mit der Erstellung einer Übersicht der aktuellen Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten zu SARS-CoV-2 beauftragt wurde. Die Arbeit hat Ende März begonnen, gesucht wird nach "Therapieoptionen, die sich in klinischer Erprobung befinden." Beobachtet werden Studienverläufe wie Ergebnisse, um der Gesundheitspolitik beratend unter die Arme greifen zu können. Politikberatung auf hohem Niveau - aber wie gut lässt sich die Politik überhaupt beraten?
Politik tickt anders
"Dass die Politik wissenschaftliche Ratschläge ignoriert, kommt sehr häufig vor, weil die Politik einfach anders "tickt" als die Wissenschaft", meint Rechtswissenschaftlerin Christiane Wendehorst, die in der Corona-Pandemie als Teil der "Juristenrunde" tätig war. Diese war im April einberufen worden, nachdem öffentliche Stimmen der Regierung vorgeworfen hatten, dass COVID-Gesetze und Verordnungen nicht ausreichend auf ihre Verfassungskonformität geprüft würden, und eine Verbesserung der legistischen Qualität gefordert hatten.
An der Schnittstelle zwischen Politik und Wissenschaft kann Wendehorst beide Seiten verstehen: "Als Wissenschaftlerin suche ich ohne Wenn und Aber nach der Lösung, die mir die 'richtige' scheint. Als Politiker oder Beamter frage ich oft zuerst: Passt das in unsere offizielle Strategie, die wir veröffentlicht haben? Kann ich uns damit profilieren? Werde ich das intern durchbringen, und welche Trade-offs werden dafür erforderlich sein? Hilft das vielleicht eher dem anderen Ressort? Manchmal läuft man als Wissenschaftler auch jahrelang gegen Wände, und dann gelingt plötzlich der Durchbruch."
Konsens ist Mangelware
Aber auch auf Seite der Wissenschaft gehen die Meinungen auseinander. Erst Anfang Juni zog beispielsweise das Fachjournal "The Lancet" nur wenige Stunden nach der Veröffentlichung eine Studie zurück, in der bei den Wirkstoffen Chloroquin und Hydroxychloroquin keine Wirksamkeit gegen Corona festgestellt worden war, mit der Begründung, dass drei der vier Autoren Zweifel an der Richtigkeit der von ihnen genutzten Daten nicht ausräumen können.
Auch bei der Maskenpflicht herrscht Uneinigkeit: Claudia Wild äußerte gegenüber der APA Ende Mai, dass das Tragen von Masken "eher infektionsfördernd als virusabstoßend" sein könne. Währenddessen sprach sich das Zentrum für Public Health der Medizinischen Universität Wien für Maskenpflicht im gesamten öffentlichen Raum aus, eine Maßnahme, die in Japan "nachweislich zur Eindämmung der COVID-19-Epidemie" beigetragen hat, wie es in einem Brief an Direktor Markus Müller hieß.
Während die WHO warnte, dass durch das Tragen einer Maske "ein falsches Gefühl des Schutzes" vermittelt werde, attestierte ein Autorenteam der Harvard Medical School (Boston/USA) dem Tragen von Gesichtsmasken zumindest psychologische Effekte: "Masken sind sichtbare Zeichen für das Vorhandensein eines weitverbreiteten unsichtbaren Krankheitserreger und können Menschen an die Bedeutung sozialer Distanz und anderer Maßnahmen zur Kontrolle der Ausbreitung erinnern."
Mit Widersprüchen kennt sich auch Martin Sprenger aus. Nachdem er mit Kritik an der Schließung von Parks aufgefallen und von Bundeskanzler Sebastian Kurz als "falscher Experte" bezeichnet worden war, zog er sich Anfang April aus der Taskforce zurück - mittlerweile ist das niedrigere Risiko von Infektionen im Freien wissenschaftlich belegt und die Parks seit einigen Wochen wieder geöffnet.
Drei Juristen, fünf Meinungen - Wem glauben?
Dissens unter Wissenschaftern und Wissenschafterinnen ist aber nicht nur in Coronazeiten keine Seltenheit. "Meist ringen wir international viele Jahre in einem bestimmten Bereich um die richtige Lösung, bis sich ein Konsens herauskristallisiert", so Wendehorst. Daten und Fakten sind zwar eindeutig, ihre Interpretation und Auslegung jedoch nicht. "Bei den Daten widersprechen sich die Wissenschafter selten, erst bei deren Interpretation", so Wild. Noch nicht einmal in der Rechtswissenschaft, deren Aufgabengebiet Regeln und Gesetze sind, ist die Lage eindeutig. "Es gilt der alte Spruch: 'Drei Juristen, fünf verschiedene Meinungen'", erklärt Wendehorst, die auch als Mitglied der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt tätig ist. Angesichts dieser unterschiedlichen Standpunkte fällt die Wahl schwer, in welche Stimme man Vertrauen setzt. Als Politiker müsse man deshalb eine möglichst breite, gesellschaftspolitische Perspektive einnehmen, so Wild, statt blind einzelnen Experten zu vertrauen.
Grundsätzlich würden wissenschaftliche Erkenntnisse durch einen "politischen Filter" geschickt, so Wendehorst. Während es für die Wissenschaft selten einfache Antworten, viele "Wenn und Aber" und "Vielleicht" gibt, wünsche sich die Politik "einfache, gut zu vermarktende Antworten, am liebsten gleich zusammen mit griffigen Slogans und einem Marketingkonzept." Auch sei die Aufmerksamkeitsspanne auf politischer Seite extrem kurz. Das "brillanteste, wissenschaftliche Konzept" bringe nichts, "wenn es nicht in maximal fünf Minuten erklärt, auf maximal drei Take-Aways reduziert und mit einem praktischen Beispiel illustriert werden kann, das dann in jedes politische Statement eingebaut und von jeder JournalistIn aufgegriffen wird. Und was sich einfach nicht so präsentieren lässt, das bleibt oft auf der Strecke."
Schwedens Weg
Bei einem komplexen Thema wie Corona werde die Zusammenarbeit weiter erschwert, weil neben den medizinischen Faktoren auch wirtschaftliche Interessen ins Spiel kommen. "In archaischen und autoritären Regimen wird auf einzelne ausgewählte Experten (Schamanen oder Eminenzen oder Oligarchen) gehört. In demokratischen Gesellschaften vertraut man auf Expertengruppen, deren Besetzung, Interessenskonflikte und Sitzungs- und Abstimmungsprotokolle offen gelegt werden. Vorbilder sind die skandinavischen Länder und die Niederlande, aber in all diesen Ländern wird eine andere politische Kultur gelebt", verweist Wild auf Länder wie Schweden, das sich in den vergangenen Monaten durch seinen ungewöhnlichen - und nicht unumstrittenen - Umgang mit dem Virus hervorgetan hat. Unterschiedliche Regierungen greifen zu unterschiedlichen Vorgehensweisen, erklärt auch Sprenger. Im Gegensatz zu Österreich werde in Schweden eine Schiene gefahren, in der man sich öffentlich für Fehler entschuldige. "Das liegt aber an der schwedischen Mentalität", betont er.
"Es gibt in manchen Ländern eine politische Kultur, 'wissensbasiert' zu entscheiden, indem man sich von der Wissenschaft unterstützen lässt, systematisch Fragen zu stellen und diese ebenso systematisch zu beantworten. Dazu gehört auch in Zeiten großer Unsicherheit dazu, die eigenen Maßnahmen zu monitoren und begleitzuforschen, um gegebenenfalls eine Korrektur vornehmen zu können. Österreich hat eher die Kultur, sich selektiv mit Gleichgesinnten zu umgeben, Daten zu hüten statt offenzulegen oder Daten zu verwenden, um die eigene Linie zu bestätigen", sieht auch Wild die Lage kritisch.
Ausblick mit Weitblick
Für die Zukunft ist Sprenger eher pessimistisch: "Österreich wird nicht viel lernen. Das hat hierzulande keine Tradition. Die Politik hat sich auf das Geschichten erzählen reduziert, auf Handlungen, die Wählerstimmen bringen." Spannend sei für ihn die Frage, was passiert, falls die Lage sich wieder verschlechtert und eine zweite Welle an Infektionen über das Land hereinbricht. "Was ist im nächsten Winter und was tun wir die nächsten vier, fünf Monate, um uns darauf vorzubereiten? Der Winter kommt bestimmt, genauso wie die Virensaison, und die Wahrscheinlichkeit, dass der Coronavirus bei diesem Paket dabei ist, ist sehr groß."
Mit Blick auf die Zukunft wurde deshalb ein "COVID-19 Future Operations Clearing Board" ins Leben gerufen, das bei der nächsten Pandemie oder Welle eine große Rolle spielen soll. "Es gibt so viele schlaue und integre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in Österreich. Wenn die Regierung nicht dumm ist, dann kann sie sich hier eine sehr gute Wissensbasis schaffen", so Sprenger. "Ich hoffe, dass der Regierung klar ist, dass wir viel gelernt haben, noch viel lernen und uns super vorbereiten können. Wenn wir das aber versäumen und keine Sachpolitik machen, dann haben wir im kommenden Winter ein Problem."
Von Anna Riedler / APA-Science