"Politikberatung funktioniert in Österreich auf Zuruf"
In Österreich gibt es zwar Beratungsgremien, aber keinen formellen Weg, in dem wissenschaftliche Expertise und Evidenz Eingang in die Politik finden. "Wenn man es provokant formuliert, könnte man sagen, die wissenschaftliche Politikberatung funktioniert auf Zuruf", erklärte Barbara Prainsack, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien, die aktuelle Situation. Das habe gewisse Vorteile, aber auch gravierende Nachteile.
Einerseits bleibe die Politik aufgrund des fehlenden "Anhörungsrechts" sehr flexibel: "Man kann sich beraten lassen, muss aber nicht." Andererseits fehle es an Transparenz. "Das ist – historisch gesehen – das österreichische Feudalmodell: Es beraten die Wissenschafter, die das Vertrauen der Regierung genießen", so die Expertin. Das heiße nicht, dass deren Beratung schlecht sei, erschwere aber, dass die Wissenschaft etwas initiiert oder auf einen Zugang zu bestimmten Daten pocht. "Weil kein formaler Prozess der gegenseitigen Diskussion existiert, gibt es außerdem wenig Möglichkeiten, die Politik für fehlende Evidenzbasierung zur Verantwortung zu ziehen", strich Prainsack hervor.
Das sei in anderen Ländern unterschiedlich geregelt, aber nirgendwo perfekt. "Bei SAGE, diesem Expertengremium im Vereinigten Königreich, sehen wir zum Beispiel extrem problematisch, dass da persönliche Vertraute des Premierministers im Gremium sitzen. Damit hat man die Vertrauenswürdigkeit von Haus aus torpediert", sagte Prainsack im Gespräch mit APA-Science. In den Niederlanden wiederum leiste der wissenschaftliche Rat für Regierungspolitik sehr gute Arbeit, so wie der Rat für Forschungs- und Innovationspolitik in Österreich. "Aber auch die können einfach ignoriert werden."
Ständige Gremien unabhängig besetzen
Grundsätzlich gelte es, zwischen ständigen und temporären Gremien zu unterscheiden. "Erstere machen wissenschaftliche Politikberatung und müssen völlig unabhängig sein. Da dürfen keine Politiker drinnen sitzen, keine Beamten und schon gar nicht irgendwelche persönlichen Berater, etwa des Bundeskanzlers", strich Prainsack hervor. Das Innenministerium oder einzelne Parlamentsparteien könnten sich aber auch von wissenschaftlichen Experten beraten lassen, die eine parteipolitische Affiliation oder sonst irgendwelche Befangenheiten hätten. "Das ist kein Problem, weil es künstlich wäre, Politik und Wissenschaft überall strikt zu trennen. Aber ständige Institutionen müssen unabhängig besetzt sein und transparent arbeiten können."
In der Regel gebe es zwei Wege, die Wissenschaft für die Entscheidungsfindung an die Politik heranzubringen: "Einerseits über die Schnittstelle zu Karriere-Beamten, also nicht die Leiter, die die Bundesregierung mitnimmt, sondern die langjährigen Experten, die in den Ministerien das Sachwissen aufgebaut haben, damit jeglicher Verdacht auf jegliche Form der politischen Parteinahme ausgeschlossen ist", so die Professorin. Der zweite Weg führe über rechtliche Erfordernisse, durch die politische Entscheidungsträger beispielsweise bei Einschränkungen der Privatsphäre von Menschen ein wissenschaftliches Gremium hören müssten. "Das heißt nicht, dass man dann an die Empfehlungen gebunden ist, das wäre übertrieben. Aber es könnte durchaus die Möglichkeit geben, dass man in besonders sensiblen Bereichen einfach anhören muss."
Anhörungsrecht gegen völlige Ignoranz
Das Resultat eines Anhörungsrechts sei, dass es für die Politiker schwieriger werde, die Wissenschaft vollkommen zu ignorieren. "Sollte dann eine Empfehlung der Forscher nicht den gewünschten Erfolg haben – etwa die Maskenpflicht – dann ist die Politik in geteilter Verantwortung mit der Wissenschaft und dadurch entlastet. Wenn andererseits die Wissenschaft etwas empfiehlt und die Regierung das nicht macht, dann steht ihr dieses Recht natürlich auch zu. Aber geht das schief, wird es schwierig, die Verantwortung von sich zu weisen, weil man ja gewarnt wurde. Das ist ein demokratiepolitisch wünschenswerter Effekt", befand Prainsack, die auch Mitglied der Österreichischen Bioethikkommission ist.
In den Gremien selbst brauche man Sachkompetenz und Menschen, die dafür bekannt sind, dass sie über ihre eigenen Disziplingrenzen hinaus denken. In der Coronakrise habe sich gezeigt, dass, wenn das allein als virologisches oder medizinisches Problem gesehen werde, man in der Politikgestaltung schnell an Grenzen stoße. "Politische, kulturelle, sozialpolitische und medizinische Auswirkungen, das muss man in der Zusammenschau sehen und da braucht es solche Leute. Das müssen nicht alle sein, weil oft die brillantesten Personen sehr disziplin-gebunden sind, aber ein paar schon", ist Prainsack überzeugt.
Schnell agieren trotz Wissens-Vakuum
Die Einbindung von unabhängigen Wissenschaftern in der aktuellen Krise sei zwar positiv zu sehen. "Was wir nach Möglichkeit aber kurzfristig brauchen, ist ein multidisziplinäres ständiges Expertengremium, das den politischen Entscheidungsträgern zur Seite steht. Dass ein solches gebildet wird, finde ich positiv", verweist die Expertin auf die "COVID-19 Future Operations Platform". Denn im derzeitigen Wissens- und Daten-Vakuum müsse schnell agiert und Evidenz generiert werden können. "Wie das neue Board sich weiter entwickelt, ist eine andere Frage. Meiner Meinung nach müsste das politisch wirklich unabhängig sein", so Prainsack.
Nicht so gut gelaufen sei in der Krise bisher, der Öffentlichkeit bewusst zu machen, warum man sich in der Wissenschaft nicht immer einig ist. "Das wird in manchen Medien manchmal so kolportiert als wäre das ein Versagen der Wissenschaft, wenn sich die Experten streiten. Das ist kein Versagen, sondern ein Beweis, dass die Wissenschaft funktioniert. Wenn man dabei ist, neue Durchbrüche zu erreichen, hat man neue Daten und weiß nicht immer genau, wie sie richtig interpretiert werden können", erläuterte Prainsack. Das Problem sei, "dass die Wissenschaftskultur in Österreich noch verbesserungswürdig ist".
Hinterfragen gehört einfach mit dazu
Eine Gesellschaft zu haben, in der man Wissenschaft nicht hinterfragen dürfe, weil die Menschen sie dann für schlecht halten würden, sei eine sehr gefährliche Entwicklung. "So sind wir aber in Österreich. Im deutschsprachigen Raum hatten die Theorie und das Philosophieren immer einen höheren Stellenwert. Auf die empirische Wissenschaft wurde oft herabgeschaut, im Gegensatz zum angelsächsischen Raum", sagte die Professorin. Bei der Coronakrise sei das Problem, dass es so etwas noch nie gegeben habe: "Wir haben keine Daten zur Effektivität von Gesichtsmasken in der aktuellen Situation, deshalb ist man sich uneinig. Das heißt nicht, dass die Wissenschaft schlecht ist, sondern, dass das etwas Neues ist."
Beim Klimawandel sei die Sache anders, da herrsche Einigkeit. "Es gibt nur wenige Ausreißer, die von politischen Organisationen und Akteuren, die andere Interessen haben, unterstützt werden. Das sind winzig kleine Minderheiten. Hier trägt der schlechte Wissenschaftsdiskurs dazu bei, das Problem zu vergrößern, weil viele Journalisten, die ein Interview organisieren, dann sagen: Nehmen wir eine Pro- und eine Contra-Stimme. Das ist absurd. Die Vorstellung, dass es in der Wissenschaft nur diese zwei Positionen gibt, und wir denn demokratischen Diskurs unterstützen, indem wir das so abbilden, ist Zeichen einer schlechten Wissenschaftskultur. Die Nuancen gehen völlig verloren", sagte Prainsack.
Von Stefan Thaler / APA-Science