Die "postfaktische" Weltsicht und ihr Vehikel namens "Fake News"
Ein Meinungsmacher tritt mit einer Behauptung auf, die sich schnell als schlichtweg falsch entpuppt. Um sich einigermaßen glaubwürdig im Diskurs zu halten, würde die Logik eigentlich besagen, dass dieser nun versucht, seinen Fuß mit Berichtigungen, dem Vorstellen neuer Daten oder einer Entschuldigung aus dem sprichwörtlichen Fettnäpfchen zu ziehen. Nicht so in der im Vormarsch befindlichen "postfaktischen" Weltsicht. Das seit kurzem breiter diskutierte Phänomen - inklusive dem Symptom "Fake News" - bringt neue Regeln jenseits der Vernunft mit sich und scheint sich im Schlepptau von "Brexit" und der Wahl Donald Trumps zu etablieren.
In einem mittlerweile ungefähr zehn Jahre alten TV-Spot mimt US-Komiker Will Ferrell den nunmehrigen Ex-US-Präsidenten George W. Bush. Diesen lässt er seine Sicht auf die Klimaerwärmung darlegen. Die holprigen Ansagen des stilisierten Präsidenten, bekannt für seine unbeirrbare Meinung, der wissenschaftlich sehr gut verstandene und abgesicherte menschgemachte Klimawandel sei ein Hirngespinst, gipfeln in dem Appell an die Wähler, sich nicht von "Liberalen und gottlosen Steuererhöhern" von "solchen Dingen wie Fakten und wissenschaftlichen Daten" beeinflussen zu lassen. So leicht wie vor zehn Jahren lässt sich über die kultige Persiflage mittlerweile nicht mehr lachen, denn als schräges US-Unikum können solche Strategien nicht mehr abgetan werden. Im Gegenteil: Für manche Akteure dürften sie zum Standard werden - nicht nur in der Politik.
Diskurs-Management am Tummelplatz der Meinungen
Das Kalkül hinter solchen Aussagen, die entweder durch Belege nicht gestützt sind oder ihnen komplett widersprechen, ist denkbar einfach: Man lässt solche Deutungen im öffentlichen Raum stehen - wohl wissend, das sie ihre Wirkung tun, indem sie irgendwo im Diskurs verbleiben. Diese Strategie sei zwar nicht unbedingt neu, sie lasse sich im Zeitalter der totalen Demokratisierung von Verbreitungswegen, etwa über Social Media-Plattformen, in denen ohne sich an journalistische Qualitätskriterien halten zu müssen potenziell jeder Nutzer eine Nachricht mit Breitenwirkung lancieren kann, einfach besser fahren, so auch der Tenor bei einer Expertendiskussion von APA-Science. Hochkonjunktur hatte diese Form der Meinungsmache im Schlagabtausch um den Brexit, in dessen Verlauf sich etwa EU-Ausstiegsbefürworter offen gegen "Experten" und "Fakten" stellten. Begründet damit, dass deren Sichtweise ihrer subjektiven Empfindung und - natürlich - jener der Bürger widerspreche.
Postfaktische "Argumentation" ist offenbar "in" und erfolgversprechend. Die Diskussion darüber gipfelte Ende des vergangenen Jahres darin, dass die Oxford Dictionaries das Wort "post-truth" (postfaktisch) zum internationalen Wort des Jahres wählten. "Angetrieben von dem Aufstieg der Sozialen Medien als Nachrichtenquelle und einem wachsenden Misstrauen gegenüber Fakten, die vom Establishment angeboten werden", habe das Konzept des Postfaktischen seit einiger Zeit an Boden gewonnen, sagte der Chef der Oxford Dictionaries, Casper Grathwohl, in der Begründung der Wahl. Das Adjektiv beschreibe Umstände, in denen die öffentliche Meinung weniger durch objektive Tatsachen als durch das Hervorrufen von Gefühlen und persönlichen Überzeugungen beeinflusst werde, heißt es in der Definition in dem mit dem Duden im deutschen Sprachraum vergleichbaren Wörterbuch.
Mehr Akzeptanz für offensichtliche Lügen?
Apropos deutscher Sprachraum: Auch die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) kürte den Begriff "postfaktisch" zum "Wort des Jahres" 2016. Für die GfdS steht das Wort gar für einen tief greifenden politischen Wandel. Immer größere Bevölkerungsschichten seien aus Widerwillen gegen "die da oben" bereit, Tatsachen zu ignorieren und sogar offensichtliche Lügen zu akzeptieren. Die Entscheidung der deutschen Jury fiel einstimmig aus, sagte der Vorsitzende der Gesellschaft, Peter Schlobinski, im vergangenen Dezember.
Die Oxford Dictionaries führten in ihrer die Entscheidung begleitenden Presseerklärung an, dass sich der Gebrauch des Wortes "postfaktisch" im Jahr 2016 im Vergleich zum Jahr davor drastisch erhöht habe. Nach einem Dahindümpeln des Begriffs 2015 registrierte man eindeutige Spitzen in der Verwendungshäufigkeit rund um die Brexit-Abstimmung in Großbritannien und im Zuge des US-Präsidentschaftswahlkampfes im Herbst. "'Postfaktisch' hat den Weg vom peripheren Ausdruck ins Zentrum von politischen Kommentaren genommen und wird mittlerweile in wichtigen Publikationen, ohne Klarstellung oder Definition in Schlagzeilen verwendet". Das geschah in weniger als einem Jahr, heißt es in der Stellungnahme. Trotz des Hypes regt sich nach dem Motto "alles nichts Neues" auch Widerstand gegen den neuen Begriff.
Begriff auch in Österreich angekommen
Nun hat sich der Terminus auch in Österreich nicht nur in den Medien spätestens seit vergangenem Herbst gut eingelebt. Eine Analyse heimischer Medienberichte des APA-Tochterunternehmens APA-DeFacto bestätigt das: Die Anzahl der Beiträge in Zeitschriften, TV-Sendungen, Tageszeitungen und News-Websites schwankte seit dem vermehrten Auftreten des Begriffs im September 2016 zwar stark, wuchs im Durchschnitt aber von knapp unter 15 Beiträgen mit der Nennung des Wortes "postfaktisch" oder "post truth" am Beginn des Herbstes auf knapp über 35 im Jänner. Eine merkliche Spitze war auch in Österreich rund um die Kür zum "Wort des Jahres" zu verzeichnen.
An der (Un-)Logik des "Postfaktischen" arbeiteten sich auch heimische Kommentatoren ab: "Wir leben im postfaktischen Zeitalter", konstatierte etwa Hans Rauscher schon Mitte September in einem Kommentar zum Verhältnis der Österreicher zum letztlich gescheiterten Freihandelsabkommen mit Kanada in der Tageszeitung "Der Standard". Auch prominente Vertreter aus dem Wissenschaftsbereich widmeten sich dem Thema: "Postfaktisch: Das Wort klingt harmlos, doch es ist diabolisch", so der Titel eines Beitrages des prominenten Mathematikers Rudolf Taschner in der Zeitung "Die Presse", ebenda stimmte ihm der Verhaltensforscher Kurt Kotrschal zu und setzte noch eins drauf: "Die Gegenwart ist antifaktisch!", hieß es im November.
Erstes Auftreten im Jahr 1992
Freilich kam der Begriff nicht aus dem Nichts und "köchelte" bereits länger vor sich hin. Seine erste Erwähnung in ungefähr jener Bedeutung, die "postfaktisch" heute anhaftet, fand sich den britischen Wörterbuch-Hütern zufolge 1992 in einem Artikel des serbisch-amerikanischen Schriftstellers und Drehbuchautors Steve Tesich im "The Nation"-Magazin. "Wir haben uns als freie Menschen frei dazu entschieden, in einer Art postfaktischen Welt zu leben", schrieb er in dem Text über die Iran-Contra-Affäre und den Ersten Golfkrieg. Das sei vermutlich die erste prominentere Erwähnung des Terms, die explizit ausdrückt, dass nicht eine zuvor bekannte Wahrheit sozusagen verloren geht, sondern die Wahrheit selbst irrelevant wird. Erstmals größere Aufmerksamkeit erregte der Begriff dann 2004, als der amerikanische Autor Ralph Keyes ein Buch mit den Titel "The Post-truth Era" veröffentlichte.
Zum größten "Förderer" dieser Entwicklung wurde natürlich der nunmehrige US-Präsident Donald Trump. Schon im Laufe seiner Kampagne setzte er mehrere einschlägige Aussagen ab. Vornehmlich über die Social Media-Plattform Twitter schoss sich Trump, wie schon sein Vor-Vorgänger George W. Bush, vor allem auf den seiner Ansicht nach vorgegaukelten Klimawandel ein. Besonders oft fühlte sich Trump offenbar zum Twittern gegen die globale Erwärmung genötigt, wenn ihm gerade kalt war. Auf Daten mit höherer wissenschaftlicher Wertigkeit griff er auch nicht zurück, als er sich sicher zeigte, dass Fracking keine gesundheitlichen Risiken mit sich bringe, Windparks jedoch sehr wohl. Auch als Impfkritiker tat er sich ohne faktischen Unterbau hervor, wie das Magazin "Scientific American" in einem Beitrag im November zeigte. Trumps Aussagen zeugten von einer alarmierenden Vernachlässigung wissenschaftlicher Erkenntnisse, hieß es in dem Beitrag.
"Alternative Fakten"
Dass er auch während der Präsidentschaft an dieser Taktik festhalten, scheint spätestens seit der Kontroverse um die angeblich falsche Medienberichterstattung über die Zahl der Zuschauer bei der Vereidigung des US-Präsidenten klar. Sein Team hielt hier Meldungen, die glaubhaft anzweifelten, dass dem Ereignis am 20. Jänner eine Rekord-Menschenmenge beiwohnte, "alternative Fakten" entgegen.
Quasi im Tandem mit dem Phänomen des Postfaktischen nimmt auch die Debatte über gezielt gestreute Falschnachrichten oder "Fake News" seit einiger Zeit ungeheure Fahrt auf. Wie eine im Vorfeld der APA-Science-Diskussionsveranstaltung von APA-DeFacto erstellte Medienanalyse zeigt, wurde das Thema zu Beginn des untersuchten Zeitraums im Oktober 2016 noch durchschnittlich knapp zwölf Mal pro Woche in den Medien erwähnt. Die Nennungen stiegen ab November bis Mitte Jänner 2017 deutlich auf teilweise mehr als 200 Treffer pro Woche an. Untersucht wurden Nennungen der Begriffe "Fake News" und "Falschmeldung" (in verschiedenen Schreibweisen).
Wissenschaft als Teil des unglaubwürdigen Establishments
An den zahlreich freifließenden Fake News zeige sich auch, dass sich das anfangs oft als emanzipatorisches Tool gesehene Internet zum Teil in einen Albtraum verwandelt hat, sagte die Wissenschaftsforscherin und frühere Präsidentin des Europäischen Forschungsrates (ERC), Helga Nowotny, bei der Diskussion. Ein vereinendes Merkmal vieler Falschmeldungen sei, dass sie gegen vermeintliche und tatsächliche Eliten gerichtet sind, die sich von der Lebensrealität der restlichen Bevölkerung abgekoppelt haben. Dazu werde eben auch die Wissenschaft gezählt. Diese müsse sich nun den Vorwurf gefallen lassen, dass es mehr Kommunikation gebraucht hätte, um den Konnex nicht zu verlieren, so Nowotny.
Mit Falschmeldungen wurden zwar immer Meinungen manipuliert und Diskurse gezielt verzerrt, konstatierte auch die Medienjournalistin Ingrid Brodnig. Die Wahrscheinlichkeit, sich in einer "Echokammer" wiederzufinden, wo man nur noch zur eigenen Meinung passenden Inhalten ausgesetzt ist, wurde allerdings durch neue Technologien höher. Auch wenn nicht viel über jene Algorithmen bekannt ist, über die Facebook seinen Usern Nachrichten anbietet, sei davon auszugehen, dass diese die Verbreitung von meist stark emotional besetzten Fake News fördern. Widerlegungen solcher oft leicht erkennbarer Fälschungen erreichten hingegen viel seltener ähnliche Verbreitung, so Brodnig.
Nur einen Klick und doch meilenweit entfernt
Reinigende Effekte innerhalb der gesamten Facebook-Community gebe es kaum. So würden Studien zeigen, dass gegensätzlich eingestellte Gruppen, wie solche, die Verschwörungstheorien anhängen und wissenschaftsaffine Communities eigentlich nie miteinander in Kontakt kommen. "Das geschieht nicht, obwohl sie nur einen Klick voneinander entfernt sind", wie es die Expertin ausdrückte. Die Wände der Echokammern sind also dicker als gedacht.
In Zeiten, in denen das Vertrauen in viele Institutionen messbar schwinde und einstige vertrauenswürdige Informations-Gatekeeper ganz wegfallen oder marginalisiert werden, sei es einfacher geworden, in zweifelhafte Nachrichten-Plattformen "hineinzukippen". Diese versorgen ihre Leser dann verlässlich und eng getaktet mit einschlägigen Fake News. Das wiederholte Ausgesetztsein gegenüber solchen Inhalten wirke laut Brodnig über die Zeit hinweg auch auf eigentlich dafür weniger empfängliche Personen. Die Expertin zeigte sich überzeugt, dass ein Schlüssel zum Umgang mit dem wachsenden Problem in den Algorithmen von Facebook und Co liegt, die auf Basis des vorangegangenen Nutzerverhalten steuern, was selbigen dargeboten wird. Diese automatischen Selektionsregeln müssten transparenter werden.
Politik nimmt sich dem Thema an
Wie mit dem komplexen Phänomen umgegangen werden soll, wird seit einiger Zeit auch seitens der Politik intensiver diskutiert. In Tschechien nahm etwa mit Jahresbeginn eine "Antidesinformationsstelle" ihre Arbeit auf. Auch in Deutschland rückt das Thema vor dem heuer anstehenden Wahlkampf in der politischen Agenda schnell nach oben. Dort gibt es Stimmen, die einen neuen Straftatbestand für Desinformation einführen wollen. Das Thema breit zu diskutieren haben sich auch in Österreich die Regierungsparteien vorgenommen.
Der frühere EU-Kommissar und nunmehrige Präsident des Europäischen Forums Alpbach, Franz Fischler, sprach angesichts der Entwicklungen von einer "riesigen Baustelle". Im Zuge der Arbeit daran müsse auch die rechtliche Rolle von Facebook geklärt werden - und zwar grenzübergreifend. Dass aber legistische Maßnahmen alleine tatsächlich Wirkung zeigen würden bezweifeln neben Fischler zahlreiche Experten und politische Akteure.
So ist "die EU-Kommission der Ansicht, dass die Verhinderung von Manipulation im Internet eine Selbstverpflichtung der sozialen Medien ist", sagte eine Kommissionssprecherin auf APA-Anfrage. Man wolle heuer Leitlinien für freiwillige Maßnahmen von Online-Plattformen herausgeben. "Fake News oder Desinformation ist ein größer werdendes Problem in Europa und weltweit. Dies ist keine kleine Bedrohung. Es ist eine sehr reale, und eine, die wir sehr ernst nehmen", hieß es.
Von Nikolaus Täuber / APA-Science