Buchtipp: "Wissenschaftlich erwiesen" - Wahrheit oder "Bullshit"?
Über gesicherte Theorien wie die Evolution oder den Zusammenhang zwischen HIV und AIDS herrscht ein breiter Konsens unter Wissenschaftern. Dennoch ist ein Teil der Bevölkerung der Meinung, dass diese Themen entweder ungelöst, manipuliert oder reine Glaubenssache sind. Warum das so ist, beleuchtet der in der Schweiz tätige freischaffende Wissenschaftsjournalist Florian Fisch in seinem neuen Buch "Wissenschaftlich erwiesen - Gütesiegel oder Etikettenschwindel?". Ergebnis: Es ist alles sehr kompliziert.
Unternehmen manipulieren, Politiker verfolgen ihre eigenen Interessen, Medien verkürzen und für Forscher zählt oft nur die Quantität der Publikationen: Das sind für den studierten Biologen nicht gerade die besten Voraussetzungen, um der Wissenschaft pauschal Glaubwürdigkeit zu attestieren. Im Gegenteil: Das Gütesiegel "Wissenschaftlich erwiesen" sei zum Teil durchaus hinterfragenswert. Die Fähigkeit dazu werde allerdings kaum vermittelt: In der Schule lerne man viel über Gravitation oder Körperzellen, aber kaum etwas darüber, wie man wahre von falschen Aussagen oder starke von schwachen Argumenten unterscheiden kann.
Studie ist nicht gleich Studie
Dummerweise sei das gar nicht so einfach, schreibt Fisch. Zu den meisten Themen gebe es viel mehr als nur eine Studie. Jede sei ein wenig anders angelegt, basiere auf anderem Vorwissen und habe einen anderen Fokus. "Die Werber, Prediger und Verkäufer picken sich dann die Studie heraus, die ihnen ins Weltbild oder in die Verkaufsstrategie passt." Möglicherweise sei sie die billigste und kleinste Erhebung, vielleicht von Unternehmen mit Eigeninteressen finanziert. Als inzwischen ernsthaftes Problem nennt Fisch gekaufte Artikel: Dabei werden Forscher von Firmen angeheuert, um bei von PR-Firmen geschriebenen Artikeln als Autoren aufzuscheinen. Das sei in Ärztezeitschriften gang und gäbe.
Sobald Studie auf Gegenstudie trifft, herrsche Glaubenskrieg. Eine Einschätzung sei meist nur Experten möglich, weshalb die Laien ihnen blind vertrauen müssten. Das hält der Autor für nicht ungefährlich, wenn einerseits die Laien ihr eigenes Denken abschalten und andererseits beispielsweise die "Götter in Weiß" selbst an diesem Zerrbild arbeiten. Gleichzeitig würden Industrie und politische Organisationen Forschungsergebnisse hintertreiben, Zweifel säen, manipulieren, verdrehen und beschuldigen. An den Beispielen Gentechnik, Klimawandel und Verschwörungstheorien zeigt er, wie schwierig es ist, Studien einzuordnen. Er rät dazu, dass die Experten ihre Entscheidungsgrundlagen transparent machen und offenlegen, nach welchen Kriterien sie wissenschaftliche Arbeiten bewerten.
Forschung wird nicht mehr ernst genommen
Als Beispiel nennt Fisch die häufigen Berichte, dass Rotwein gut für das Herz ist. Gleichzeitig gebe es Kampagnen gegen Alkohol. Das Ergebnis sei, dass der Bürger denkt: "Mal ist es gesund und dann wieder nicht. Die Wissenschafter wechseln ihre Meinung so wie unsereins die Unterhosen." Die Wahrheit spiele im Alltag demgemäß eine untergeordnete Rolle: zu viele Vorurteile, zu wenig Zeit. Informationen, die dem eigenen Weltbild widersprechen, werden ausgeblendet, reißerischen News schenkt man bereitwillig Glauben.
Das Interesse an Wahrheit sei auch bei den Autoren durchaus unterschiedlich ausgeprägt: "Es ist ein Ideal, wonach ein Naturwissenschafter seine Hypothese mit allen Mitteln zu widerlegen versucht. In der Praxis versucht er nur, seine Kollegen zu überzeugen." Fisch skizziert in seinem Buch ausführlich zahlreiche altbekannte Probleme: Entdeckte Fehler werden oft aus Höflichkeit oder Angst verschwiegen. Negative Resultate gehen unter, weil sie nicht publiziert werden. Andere Naturwissenschafter verschwenden dadurch Zeit und Geld mit erfolglosen Wiederholungen. Auch die Auswüchse bei der Publikationspraxis werden thematisiert, Scheinkausalitäten und Verzerrungen erklärt. Als wären diese Probleme mit der Fachliteratur nicht genug, verzerren die Journalisten laut dem Autor die Faktenlage weiter.
Konsens bei Lehrmeinung wichtig, aber kein Dogma
Zudem gebe es auch unter den Wissenschaftern "Rosinenpicker", die sich auf veraltete, widerlegte Arbeiten stützen und neue Daten konsequent ignorieren würden. So lasse sich immer ein Experte mit gegenteiliger Meinung finden. Fisch plädiert dafür, auch bei kleinen Unstimmigkeiten eine - zumindest vorübergehend gültige - Lehrmeinung herauszuarbeiten. Konsens sei aber nicht gleich Dogma. "Im Lichte neuer gewichtiger Belege wird jeder Konsens fallen müssen." Gibt es zwei Lager, wären gemeinsame Konferenzen eine ideale Art, die Standpunkte abzugleichen. Laien hätten letztlich keine andere Wahl, als namhaften Experten, wissenschaftlichen Institutionen und staatlichen Behörden Vertrauen zu schenken.
Thematisiert wird in dem Buch auch, was passiert, wenn Politiker den wissenschaftlichen Konsens ignorieren wie bei HIV/AIDS in Südafrika oder der immer wiederkehrenden Impfdebatte. So seien durch den Stopp der AIDS-Programme durch den damaligen südafrikanischen Präsidenten Thabo Mbeki allein zwischen 2000 und 2005 über 300.000 Menschen unnötig gestorben. Sein Fazit: "Wenn wir die Wahrheit nicht erkennen - oder gar leugnen - kostet dies vielen Menschen das Leben."
Von Stefan Thaler / APA-Science
Zum Autor: Florian Fisch, geboren 1978, arbeitet als freischaffender Wissenschaftsjournalist in Bern. Er studierte Biologie an den Universitäten Lausanne und Neuchâtel, forschte am botanischen Institut in Basel und promovierte im englischen York in Biochemie.
Service: Florian Fisch: "Wissenschaftlich erwiesen - Gütesiegel oder Etikettenschwindel?", Wiley-VCH, ISBN: 978-3-527-33886-3, 254 Seiten, 24,90 Euro