"Eine informierte Gesellschaft ist die effizienteste Gegenstrategie"
Wenn Sie Vertreter unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen fragen, was sie vom "postfaktischen Zeitalter" halten, werden Sie vermutlich auch sehr viele unterschiedliche Meinungen und Standpunkte hören. Ich kann somit nur meinen persönlichen Standpunkt, basierend auf meinen Erfahrungen im Bereich der Wissenschaftskommunikation und als Naturwissenschaftler kundtun. Ich halte den Begriff "postfaktisches Zeitalter" für übertrieben. Ein Zeitalter umfasst z.B. in der Naturwissenschaft längere zeitliche Abschnitte einer Entwicklung. Wenn man nun weiß, dass das Wort "postfaktisch" eigentlich erst 2016 durch den amerikanischen Wahlkampf zum Wort des Jahres wurde, kann man hier noch nicht wirklich von einem Zeitalter sprechen. Würde es wirklich ein postfaktisches Zeitalter geben, hätten Wissenschafter den Kampf gegen jene, die gezielt Unwahrheiten verbreiten, bereits verloren. Dann stünde die Kunst der Manipulation von Massenmedien gleichberechtigt neben fundiertem Wissen. Davon sind wir aber noch etwas entfernt. Ich bin aber auch der Überzeugung, dass wir Strategien entwickeln sollten, um wissenschaftlichen Fakten wieder einen höheren Stellenwert in der Gesellschaft zu geben.
Ich stelle immer wieder fest, dass es sehr viele Menschen gibt, die Interesse an wissenschaftlichen Fakten haben. Wir nutzen daher soziale Medien wie Facebook und Twitter, um neue Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Gleichzeitig sehe ich jedoch auch die Gefahr, die diese Art der Informationsverbreitung nach sich zieht. Denn nicht nur Fakten, sondern auch Unwahrheiten können über diese Kanäle beinahe ungefiltert an die Öffentlichkeit getragen werden. Des Weiteren kann eine Falschinterpretation zu einer verzerrten Darstellung von Fakten führen. Beinahe schon ein negatives Qualitätsmerkmal, durch das sich vor allem die Boulevardpresse "auszeichnet", die unter dem Deckmantel des Aufklärens aus Teilfakten unkorrekte Aussagen ausarbeitet. Zum einen, um mit reißerischen Schlagzeilen mehr Leser lukrieren zu können, zum anderen aus journalistischer Inkompetenz.
Wir halten im Allgemeinen für wahr, was sich belegen lässt. Für mich ist ein fundierter Beleg klar definiert, z.B. durch eine Veröffentlichung in einer unter Experten akzeptierten wissenschaftlichen Zeitschrift. Somit kann ich den Wahrheitsgrad einer Aussage anhand von wissenschaftlichen Fakten, die ich gezielt suchen kann, klar beurteilen. Jetzt hatte ich aber das Privileg, im Rahmen meines Studiums zwei wichtige Dinge zu erlernen: Erstens, wie ich fundierte Fakten von Unwahrheiten unterscheiden kann. Zweitens, das Gehörte und Gelesene zu hinterfragen und die richtigen Fragen zu stellen.
Eine nicht derart geschulte Gesellschaft stößt jedoch durch die tagtägliche Flut an Informationen aus dem Internet, vor allem durch soziale Medien, an ihre Grenzen. Zum einen an die Grenzen der Aufnahmefähigkeit. Zum anderen wird es immer schwieriger, den Wahrheitsgrad der Informationen überhaupt beurteilen zu können. Wenn in einer kommerziellen Werbung gezielt versucht wird, mit pseudowissenschaftlichen Behauptungen das jeweilige Produkt aufzuwerten, fallen vermutlich nur sehr wenige Menschen darauf herein. Wenn allerdings z.B. Großkonzerne oder Lobbyisten Studien in Auftrag geben, um die eigenen Produkte in ein öffentlichkeitsfreundlicheres Licht zu rücken, wird die Beurteilung der Aussagekraft und der wissenschaftlichen Reputation dieser Studien schon deutlich schwieriger. Für einen wissenschaftlichen Laien manchmal sogar unmöglich. Ist man dazu aber nicht in der Lage, steht man vor dem Problem, geeignete Quellen finden zu müssen, um feststellen zu können, welche der an uns herangetragenen Informationen sind wahr, was ist unwahr und wo wurde manipuliert? Man sollte sich bewusst sein, dass einfache Recherchen im Netz aber nur bedingt Aufschluss geben, zumal bei der Suche ja ein Computer-Algorithmus die passenden Suchergebnisse auswählt. Diese Auswahl basiert also nicht auf menschlicher Vernunft und wissenschaftlicher Reputation, sondern ist passend zu meinen bisherigen Klick-Aktionen im Internet. Ein Algorithmus, der vor allem im sozialen Medium Facebook gezielt benutzt wird um z.B. kommerzielle Werbung anzusteuern.
Ein zusätzliches Problem haben wir dann, wenn Demagogen in sozialen Medien Fakten gezielt als Unwahrheiten darstellen. Eine Strategie, die man bei Kandidaten der republikanischen Partei im US-Wahlkampf und Rechtspopulisten in Europa gut beobachten konnte/kann und die damit nachweislich auch noch erfolgreich sind. Der Grund des Erfolges liegt in der Beharrlichkeit mit Unwahrheiten zu argumentieren. Das wird so lange praktiziert, bis Menschen in der Gesellschaft endgültig den Überblick verlieren, wer nun wirklich die Wahrheit sagt und wer nicht.
Der Vormarsch der sozialen Medien ist nicht Hauptgrund einer vermeintlich postfaktischen Misere, aber gibt Demagogen, Volksverhetzern und Lügnern eine Plattform, um ihre Manipulationen und Unwahrheiten zu posten. Doch wie kontert man? Ich persönlich halte davon Abstand, mich in sozialen Medien wie z.B. Facebook auf Diskussionen einzulassen. Aus zwei Gründen: einerseits ist es schwierig, mit Fakten zu kontern. Ein Gespräch, in dem der Gesprächspartner diese Fakten nicht anerkennt und wissentlich lügt, kann nicht mit Fakten verteidigt werden. Andererseits liegt das Rezept für eine erfolgreiche Dissemination von Unwahrheiten auch darin, dass diese von einer möglichst großen Community gelesen werden müssen. Und das wird dadurch erreicht, in dem man möglichst viele Menschen anstachelt, diese Posts zu kommentieren und mitzudiskutieren. Denn auch diese User verbreiten indirekt über ihre "Facebook-Freunde" all den Unsinn weiter.
Ich glaube, dass vonseiten der Wissenschaftscommunity die Macht der sozialen Medien und deren Nutzer unterschätzt wurde. Denn sonst hätte man nicht jahrelang den Bereich Wissenschaftskommunikation so "stiefmütterlich" behandelt und nur marginal gefördert. Aber spätestens seit den US-Präsidentschaftswahlen sollte sich auch in Europa unter allen Kritikern einer offensiven und dem Zeitgeist entsprechenden Wissensvermittlung herumgesprochen haben, dass eine informierte, der Wissenschaft aufgeschlossene Gesellschaft die mit Abstand effizienteste Gegenstrategie ist, um faktisch falsche Darstellungen in (sozialen) Medien im Keime zu ersticken. Ein Zitat von Marie von Ebner-Eschenbach, übrigens auch Leitsatz der Science Busters, erfasst die Situation wohl am besten: "Wer nichts weiß, muss alles glauben."