Wie Hightech im Demenz-Alltag unterstützt
Pflegeroboter, Tablet-PCs, Apps und Sensorik: Schon seit vielen Jahren wird an Systemen gearbeitet, die älteren oder kranken Menschen und ihren Betreuern das Leben erleichtern sollen. Welche Tools und digitalen Helferlein aktuell hinsichtlich Demenz erforscht und entwickelt werden, erklären Expertinnen und Experten im Gespräch mit APA-Science.
Wenn von Demenz Betroffene außer Haus sind, haben die Betreuer oft ein mulmiges Gefühl. Umgekehrt verlassen die Betroffenen aus Angst vor einem "Verlaufen" ungern die eigenen vier Wände. Das wirkt sich auch auf die sozialen Kontakte aus. Abhilfe für dieses Problem soll das Projekt "FreeWalker" schaffen. Es bietet Betreuern die Möglichkeit, Personen mit kognitiven Defiziten aufzufinden oder gewarnt zu werden, wenn sie eine bestimmte Zone verlassen. "Allerdings ist das System flexibler und hat dadurch Vorteile gegenüber bestehenden starren Angeboten, die eher einschränken als unterstützen", so Martin Litzenberger vom Austrian Institute of Technology (AIT).
Aufgrund der üblichen Wege wird eine dynamische, persönliche Zone erstellt, die erst bei massiveren Überschreitungen Alarm schlägt – und das zuerst bei der betroffenen Person. Sie kann entscheiden, ob eine Meldung abgesetzt werden soll oder nicht. Das bringt mehr Eigenverantwortung mit sich und geht ein großes Stück weg von der reinen Überwachung. Auch Termine, die im Kalender eingetragen sind, berücksichtigt das System. So werden die zugehörigen Orte und der Weg dorthin als "sicherer Korridor" quasi "freigeschaltet". Das System "lernt" auch, welche Strecken üblicherweise zurückgelegt werden.
Position ist nur im Alarmfall sichtbar
Menschen in einem frühen Demenz-Stadium können eine App nutzen, ansonsten gibt es auch die Möglichkeit GPS-Tracker in Form von Uhren oder Anhängern einzusetzen. Der Betreuer hat im Alarmfall Zugriff auf eine Informationsdatenbank, die den derzeitigen Aufenthaltsort der von Demenz betroffenen Person, benötigte Medikamente oder auch Kontaktinformationen enthält. Derzeit sei man mit der Fertigstellung der Software beschäftigt, so Litzenberger. Mitte kommenden Jahres soll dann ein Feldversuch mit knapp hundert Teilnehmern in drei Ländern durchgeführt werden. Das Projekt endet im Frühjahr 2021.
"FreeWalker" baut auf dem bereits abgeschlossenen Projekt "DayGuide" auf, bei dem es nicht um Outdoor-Lösungen geht, sondern um die Erleichterung des Alltags und Routinen im Haushalt, also die Erinnerung an Medikamenteneinnahmen, den Herd abzuschalten oder eine ausreichende Flüssigkeitsaufnahme. Hier wird laut Litzenberger derzeit über eine Markteinführung gesprochen. Denn abgesehen von allen technologischen Herausforderungen, stelle sich bei all diesen Projekten auch die Frage: "Wer wird am Ende des Tages dafür bezahlen wollen?"
Hürden auf dem Weg zum fertigen Produkt
"Viele Innovationen sind in der Pflegepraxis nicht angekommen. Ein Grund dafür sind die Kosten", meint auch Sandra Schüssler vom Institut für Pflegewissenschaft an der MedUni Graz. Außerdem würde es noch immer Hürden auf dem Weg vom Prototypen zum fertigen Produkt beziehungsweise von der Forschung in die Praxis geben. In Ausschreibungen habe sich der Fokus aber schon hin zum fertigen Produkt verschoben. "Das hat klar an Stellenwert gewonnen", erklärte die Leiterin der Forschungseinheit "TechCare Lab" – (Neue) Technologien in der Gesundheitspflege.
Das dritte Problem sei, dass die meisten Pflegepersonen gar nicht wissen würden, was es alles an Unterstützung gebe. "Schon in der Grundausbildung gibt es keine Informationen über neue Technologien in der Pflege, und auch nicht in der Weiterbildung", sagte Schüssler. Erst in den vergangenen Jahren habe sich langsam herauskristallisiert, dass es wichtig sei, in diesem Bereich zu forschen und die Pflege auf die neuen Möglichkeiten vorzubereiten, ortet die Expertin deutlichen Aufholbedarf.
Pepper motiviert zu Ãœbungen
Weltweit gehe der Trend weg von der stationären hin zur mobilen Betreuung. Lange zuhause bleiben soll gefördert werden. Ein Schritt in diese Richtung ist das FFG-Projekt "AMIGO", das die MedUni Graz in Zusammenarbeit mit der Forschungsgesellschaft Joanneum Research und weiteren Partnern durchführt und das noch bis zum Frühjahr 2020 läuft. Hier versucht "Pepper", der erste kommerziell verfügbare Roboter, 20 Personen mit Demenz daheim zu aktivieren und zu motivieren, körperliche und kognitive Übungen zu machen. Außerdem gibt es eine Kontrollgruppe mit Personen, denen statt dem Roboter nur ein Tablet-PC zum Trainieren zur Verfügung steht.
Ergebnisse stehen noch aus, bei Test-Haushalten in einer frühen Phase hätten die von Demenz betroffenen Menschen die Roboter aber sehr gut angenommen, "die sind richtig aufgelebt", so Schüssler. Die Kommunikation sei dadurch gefördert worden, dass "Pepper" geduldig zuhört. Auch sonst haben die Testpersonen den Roboter sehr fürsorglich behandelt und ihm gut zugeredet, wenn er etwas nicht verstanden hat. Trotzdem wurde der Roboter als Respektperson gesehen: Wenn er gesagt hat: "Maria, es wäre wieder Zeit für die Übungen", sei das eher gemacht worden, als wenn Angehörige dazu aufgerufen hätten.
Bei Robotern noch Luft nach oben
Aber auch der Austausch mit den Familienmitgliedern habe zugenommen. Enkelkinder würden beispielsweise auf häufigere Besuche drängen, wenn sie wissen, dass ein Roboter im Haushalt ist. Pflege-Roboter hätten viel Potenzial, es gebe aber noch deutlichen Verbesserungsbedarf, konstatierte Schüssler: "Mimik, Bewegung und Sprache passen noch nicht gut zusammen. Eine Forschergruppe arbeitet am Aussehen des Roboters, andere an der Bewegung und wieder andere an der Intelligenz. Das führt dazu, dass wir sehr schöne Roboter haben, die nicht gut sprechen können – und umgekehrt. Aber wenn das alles zusammenkommt, ergeben sich viele Chancen", so die Expertin im Gespräch mit APA-Science.
Eine tolle Sache sei auch die Robbe "Paro", ein 60 cm langer Roboter, der auf Ansprache mit Bewegungen und Tönen reagiert. Sie wird bei schwerer Demenz eingesetzt, weil diese Personen hauptsächlich auf der Gefühlsebene kommunizieren. "Die Ansprache auf Berührung, Gestik und Mimik ist sehr gut. Paro macht Geräusche, klimpert mit den Wimpern und macht Bewegungen mit den Flossen. Das ist einem Haustier nicht unähnlich und sehr angenehm für Personen mit Demenz", erläuterte Schüssler. Im Trend liegen würden auch Virtual-Reality-Technologien, hier arbeite man unter Leitung von Joanneum Research Digital mit mehreren Partnern beispielsweise im Projekt OpenSense an einem virtuellen Achtsamkeitstraining für Menschen mit Demenz, mit dem die Sinne wieder aktiviert werden sollen.
Augmented Reality zur Früherkennung
Augmented Reality (AR), nicht Virtual Reality, steht im Mittelpunkt des fünfjährigen FFG-geförderten Projekts "SCOBES-AR". Daraus hervorgehen soll ein Screening-Instrument zur Früherkennung neurokognitiver Defizite. Das mobile Test-Setting besteht aus einem Tablet-PC für den Tester und einem Smartphone mit AR-App und Kopfhalterung für die untersuchte Person. Reale Objekte werden um virtuelle Objekte und Aufgaben erweitert, kognitive Funktionalitäten erfasst und ausgewertet, erklärte Projektleiter Wolfgang Staubmann, Dozent und interimistischer Leiter des Health Perception Labs an der FH Joanneum. "Die Idee ist, möglichst frühzeitig Abweichungen bei der kognitiven oder physischen Performance ab einer bestimmten Altersgrenze festzustellen, um gezielt präventive Maßnahmen – etwa bestimmte Ernährungs- oder Bewegungsprogramme – setzen zu können. Es ist aber kein Diagnose-Tool", stellte der Experte klar.
Auslöser für das im Oktober 2018 gestartete Projekt sei gewesen, dass es keine funktionierenden Screening-Methoden gebe, um Veränderungen möglichst frühzeitig zu erkennen. Diagnoseverfahren würden erst zum Einsatz kommen, wenn bereits Symptome vorhanden seien. Bei der Therapie von kognitiven Störungen gehe es stark in die Vermeidung der Progression. Es werde also erst angesetzt, wenn die Krankheit schon da sei. Deshalb gelten Prävention und Früherkennung als immer wichtiger.
Marker innovativ miteinander kombinieren
In den verschiedenen Gesundheitsprofessionen hätten sich Marker herauskristallisiert, die schon sehr früh auf neurokognitive Veränderungen hinweisen könnten. Beispiele dafür sind Veränderungen in der Durchführung von kognitiven Aufgaben, wenn Bewegungsaktivitäten gemacht werden müssen, Wortflüssigkeit oder abnehmende Riechleistung. "Diese Marker für sich alleine genommen sind zu wenig aussagekräftig, weil sie sehr unspezifisch sind und andere Ursachen haben können. Wir versuchen, diese Marker beziehungsweise die entsprechenden Screening-Verfahren innovativ miteinander zu kombinieren und in Verbindung mit Augmented-Reality-Technik ökonomisch zu verpacken", fasste Staubmann zusammen.
Im Augenblick sei man dabei, die einzelnen Verfahren mittels Papierprototypen in einer großen Studie inhaltlich zu validieren. Im Herbst 2020 gehe es dann mit der technischen Entwicklung – also der Übertragung von geeigneten Screening-Verfahren in AR – richtig los. Danach wird das Tool im Labor noch einmal getestet, worauf 2022 eine Ausrollung an ausgewählte Gesundheitsprofessionisten folgt. "Das können beispielsweise Primary Health Care-Zentren oder niedergelassene Logopäden und Physiotherapeuten sein. Letztendlich stellt sich die Frage, wie das in das österreichische Gesundheitssystem eingebaut werden kann. Wir überlegen uns jetzt schon, wie die Schnittstellen dazu ausschauen müssen", so Staubmann.
Testdauer von unter einer halben Stunde
Implementiert werden sechs verschiedene Test-Verfahren, daraus ergeben sich 15 Marker und 150 bis 200 Datensätze pro Person. Angestrebt wird eine Testdauer von unter einer halben Stunde. Eine Aufgabe ist Kaffeekochen. "Einerseits gibt es die Beobachtung durch den Untersucher, andererseits entstehen Zeitdaten: Wie lange braucht die Person? Gibt es Fehlversuche bzw. mehrere Anläufe?", erklärte der Forscher. Gut geeignet für eine Umsetzung in AR sei auch der "Trail Making"-Test, bei dem nummerierte 3D-Kugeln im Raum vom Beobachter in der richtigen Reihenfolge mit dem Blick verfolgt werden müssen. Insgesamt soll es aber auf eine Kombination aus AR und analogen Tests hinauslaufen – so werden auch Fragebögen zum Einsatz kommen.
An einer Unterstützung für Personen, die Menschen mit Demenz pflegen, wird im Projekt "SUCCESS" gearbeitet. "Wir haben eine sehr einfache Art und Weise gewählt, ihnen ein Trainingsangebot für einen besseren Pflegealltag in die Hand zu geben – nämlich über eine App am Smartphone", sagte Projektkoordinator Markus Garschall vom AIT. Andere Möglichkeiten würden nur sehr zögerlich in Anspruch genommen, weil man sich beispielsweise nicht wohl dabei fühle, mit anderen über die Krankheit zu sprechen: "Da gibt es noch immer ein gewisses Stigma." Andererseits würden es die Betreuungspersonen zeitlich gar nicht schaffen, hinauszugehen und die Angebote in Anspruch zu nehmen.
Avatar trainiert konkrete Strategien
Die App soll dabei helfen, mit spezifischen Situationen umzugehen, die in der Betreuung von Menschen mit Demenz auftreten können: Wie reagiere ich auf physische oder verbale Aggression, das Verstecken von Dingen oder den Wunsch, nach Hause zu gehen, obwohl die Person zu Hause ist? Wie kommuniziere und interagiere ich hier am besten? "Ein Kernelement unserer App ist, dass wir für diese ganz konkreten Situationen auf unterschiedliche Art Ratschläge geben. Das einfachste Element sind klassische Artikel, die man beizeiten lesen kann, bis hin zu kurzen Tipps, die man ohne einen langen Text lesen zu müssen, schnell abruft. Das innovativste Element sind Avatar-basierte Trainings und Rollenspiele, mit denen man in konkreten Situationen verschiedene Strategien ausprobieren kann", so Garschall.
Zwei weitere Funktionen betreffen sinnstiftende Aktivitäten und sich als Pflegeperson auch um sich selbst zu kümmern. Die App mache ganz konkrete Vorschläge, wie man den Alltag gestalten kann, um ein angenehmes Miteinander zu haben. Das reiche vom Ansehen von Fotos von früher bis zur bewussten Auseinandersetzung mit Gerüchen beim Kochen – welche Erinnerungen verbindet man mit bestimmten Kräutern oder Gewürzen? Genauso wichtig sei die bewusste Reflexion der Pflegeperson, wie es ihr gerade geht. Auch hier biete die Anwendung entsprechende Unterstützung. Informationen zu regionalen Angeboten bezüglich Kurzzeitpflege oder Selbsthilfegruppen würden ebenfalls bereitgestellt. Initiativen, die in eine ähnliche Richtung gehen, gibt es auch von der FH Campus Wien (siehe Gastkommentar).
Für Einzelhandel oder Apotheken interessant
Die Benutzerstudien werden in zwei Ländern durchgeführt: Österreich und Rumänien. "Aktuell läuft eine sechsmonatige Feldstudie mit in Summe 60 Benutzern in diesen beiden Ländern, um herauszufinden, welchen Einfluss eine solche Anwendung tatsächlich auf die Pflegequalität hat", erklärte der Forscher des AIT Center for Technology Experience gegenüber APA-Science. Nach Projektende ist geplant, das Angebot als weiteren Service in eine bestehende Pflege-Plattform zu integrieren oder es als klassische Handy-App anzubieten. Die gesammelten Informationen seien jedenfalls für alle Bereiche relevant, wo Personen mit Menschen mit Demenz zu tun haben – etwa im Einzelhandel oder in der Apotheke.
Im Bereich Active and Assisted Living (AAL) würden es viele Lösungen nicht vom Status eines Prototypen hin zu einem wirklichen Produkt, das am Markt angeboten wird, schaffen. "Hier bräuchte es noch weitere Förderungen und noch mehr Anreize, damit Firmen ihre Produkte zur Marktreife bringen können. Klein- und Mittelbetriebe in diesem Bereich schaffen es oft nicht, diese Lücke aus eigenen Mitteln zu überbrücken. Um IKT-basierte Unterstützungstechnologien in die Breite zu bekommen, braucht es das aber, allerdings sind wir auf einem guten Weg", resümiert Garschall.
Von Stefan Thaler / APA-Science