Wie lebt man gut mit Demenz? Es fehlt an Forschung
Seit Ende 2015 gibt es eine österreichische Demenzstrategie. Welche Ziele sie verfolgt und was bereits umgesetzt wurde, hat APA-Science von Projektleiterin Brigitte Juraszovich von der Gesundheit Österreich GmbH erfahren. Während es mittlerweile eine gute Vernetzung über Bund, Länder und Sektoren hinweg gebe, ortet die Expertin starken Bedarf an einer engeren Achse zwischen Praxis und Forschung.
Die Plattform Demenzstrategie bringt Verantwortungsträger zusammen, um Maßnahmen zur Umsetzung der Strategie auf Schiene zu bringen. Sechs Arbeitsgruppen mit über 70 Stakeholder-Gruppen waren an der Erarbeitung der Demenzstrategie beteiligt. Darunter Vertreterinnen und Vertretern von Bund, Ländern, Gemeinden, Städten, Trägerorganisationen, Krankenanstalten, aus Wissenschaft und Forschung. "Aber natürlich auch Vertreter von Betroffenen und Angehörigen sowie Personen, die selbst an Demenz erkrankt sind", erzählt Juraszovich. Entstanden sind 21 Handlungsempfehlungen für sieben sogenannte Wirkungsziele. Rund 90 Maßnahmen wurden mittlerweile umgesetzt.
Enger Austausch der Stakeholder
Die diversen Stakeholder wurden nicht nur in die Erarbeitung der Strategie intensiv eingebunden, auch seither findet ein enger Austausch statt. So ist etwa eine ständige Arbeitsgruppe mit 25 Personen eingerichtet, die sich bis zu vier mal jährlich trifft. Diese Vertreterinnen und -Vertreter von Bund, Länder, Sozialversicherung und Co. melden regelmäßig Projekte und Maßnahmen ein (nachzuverfolgen auf der Plattform Demenzstrategie unter "Umsetzung"). Darüber hinaus findet jährlich eine Arbeitstagung mit einem erweiterten Kreis von Teilnehmern statt.
Die Wirkungsziele eins bis drei haben Demenz als gesellschaftliche Aufgabe zum Inhalt. "Wir sehen die Krankheit als Public-Health-Thema. Wie lassen sich gesellschaftliche Teilhabe und Partizipation der Betroffenen stärken?", erläutert die Expertin die inhaltliche Ausrichtung. Dieses Thema stand auch das gesamte Jahr 2019 im Mittelpunkt. "Von Demenz betroffene Menschen bekommen mehr Platz in der Öffentlichkeit und werden in Planungen und Umsetzung miteinbezogen", so Juraszovich und nennt als Beispiel die Selbsthilfegruppen PROMENZ oder auch Alzheimer Austria, die Beratung von Betroffenen für Betroffene sowie Angehörige anbietet. Auch bei der im vergangenen September stattgefundenen zweiten Arbeitstagung der Plattform Demenzstrategie waren Demenzkranke eingeladen, ihre Anliegen am Podium zu diskutieren.
Weit mehr als eine Frage der Versorgung
Man wolle weg vom reinen Aspekt der Versorgung und stattdessen aufzeigen, wie ein "gutes" Leben mit Demenz möglich sei. Diese drei Ziele würden primär vom Bund unterstützt. Immer mehr Städte und Gemeinden würden mittlerweile die Verantwortung dafür übernehmen, Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Menschen mit Demenz und ihre Angehörige so lange wie möglich am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Als Best-Practice-Beispiel nennt die Gesundheitsexpertin die Aktion Demenz Vorarlberg. "Inzwischen gibt es die demenzfreundliche Stadt Salzburg, die demenzfreundliche Stadt Wien - hier wurden die Initiativen einzelner Bezirke nun unter das Dach der Stadt genommen", freut sich Juraszovich, was die Vernetzung und gegenseitiges Voneinander-Lernen fördere. Auch demenzfreundliche Kommunen würden sukzessive ausgebaut. Wissenschaftlich begleitet wird das Projekt von der Fachhochschule Krems sowie dem Institut für Pflegewissenschaften der Universität Wien.
Ein weiteres umgesetztes Projekt ist "Einsatz Demenz", ein Online-Schulungstool für die Polizei. "Polizisten lernen damit mehr über den Umgang mit Betroffenen und müssen auch 'Prüfungsfragen' beantworten. Etwa: Wie reagiere ich, wenn ich eine verwirrte Person antreffe? Wir erkenne ich, ob es sich hier um eine Person mit Demenz handelt?", so Juraszovich. Mittlerweile gibt es ihr zufolge bereits 150 zertifizierte demenzfreundliche Dienststellen. Geplant ist, das Tool auf Berufsgruppen des öffentlichen Dienstes und auf andere Behörden auszudehnen.
Als Wirkungsziel vier wurde die Schaffung einheitlicher Rahmenbedingungen auf Bundes- sowie Landesebene mit dem Ziel einer österreichweiten ähnlichen Angebotsstruktur - sprich gleiche Qualität und Verfügbarkeit - für Betroffene und ihre Angehörige formuliert. Die Ziele fünf und sechs sind Ländersache, darin geht es um die Betreuung und Versorgung von Demenzpatientinnen und -patienten. Das Ziel sieben verfolgt die "Qualitätssicherung und -verbesserung durch Forschung".
Gegenseitige Inspiration statt Zielvorgaben
Während der Bund sich sehr wohl jährliche Ziele steckt, habe man auf die Vorgabe von definierten Teilzielen für die Länder bewusst verzichtet, und die Strategie als gemeinsamen Rahmen von Bund, Ländern, Sozialversicherung und Gemeinden definiert. "Diese Stakeholder wollten ihre eigenen Umsetzungspläne und -maßnahmen. Es gibt aber einen sehr engen Austausch zwischen den Ländern, sie orientieren sich aneinander und lernen voneinander", betont Juraszovich. Das Plattform- und Netzwerkprinzip funktioniere sehr gut, auch über Sektoren hinweg. Als Beispiel nennt die Expertin die Ausweitung des Einsatzbereiches des Online-Schulungstools.
Mit dem Fortschritt der in Bundeskompetenz liegenden Ziele zeigt sich die Expertin zufrieden. "Hier tut sich viel", meint sie. Ein Wunsch wäre es, im Bildungsbereich anzusetzen und ein Angebot für Kinder und Jugendliche zu erarbeiten, das über punktuelle Initiativen wie etwa ein Bilderbuch der Caritas Socialis hinausgeht. Es soll sie informieren, die Krankheit erklären, ihnen Ängste nehmen, "denn oft haben die Kinder ja eine Oma oder einen Opa mit Demenz", so die Fachfrau.
Zu wenig Forschung
Im internationalen Vergleich "wirklich Nachholbedarf" ortet Juraszovich nur beim siebten Ziel, also der Zusammenarbeit von Praxis und Forschung. "Es fließt zwar in die medizinische Forschung sehr viel Geld, Österreich ist da bei internationalen Projekten dabei, und das ist auch gut. Aber nach wie vor gibt es etwa keine gesicherten Erkenntnisse darüber, welche Präventionsmaßnahmen wirken", gibt sie zu bedenken.
"Wissenschaftliche Evidenz ist ein wichtiger Bestandteil, um Menschen mit einer Demenzdiagnose in der Pflege und Betreuung gut begleiten zu können. Sie muss allerdings so heruntergebrochen werden, dass sie nicht nur die Diagnose in den Vordergrund stellt, sondern auch den Umgang und die Begleitung durch den oft langdauernden Prozess", erklärt auch Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der Interessensgemeinschaft pflegender Angehöriger (siehe "Wenn Angehörige pflegen: Verwandte Verantwortung").
Juraszovich wünsche sich - auch international, über Einzelstudien hinaus - mehr Mittel für die Frage, mit welchen pflegerischen, pädagogischen, sozialarbeiterischen und psychosozialen Maßnahmen man Menschen mit Demenz unterstützen könne, ein gutes Leben zu führen. "Denn Demenz gilt nach wie vor als unheilbar, und das ist die Realität, der wir uns stellen müssen."
Von Sylvia Maier-Kubala / APA-Science